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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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fühlte sie sich doppelt verloren.
    Eigentlich unverzeihlich, daß sie ihn letzte Nacht nach dieser Geistererscheinung so verzweifelt angerufen hatte und daß sie sich jetzt so verzweifelt nach ihm sehnte. Allmählich wurde sie ruhiger. Und dann dämmerte es ihr langsam – der Geist letzte Nacht, und in der letzten Nacht war auch ihre Mutter gestorben!
    Sie setzte sich auf und versuchte sich noch einmal an die genauen Details des Erlebnisses zu erinnern. Nur Augenblicke, bevor ihr der Mann erschienen war, hatte sie auf die Uhr geschaut. Es war fünf nach drei gewesen. Und hatte diese schreckliche Frau nicht gesagt: »Deine Mutter ist um fünf nach fünf gestorben?«
    Das war genau dieselbe Zeit in New Orleans. Aber was für eine verblüffende Möglichkeit, daß die beiden Ereignisse zusammenhängen sollten…
    Natürlich, wenn ihre Mutter ihr erschienen wäre, das wäre unglaublich wundervoll gewesen. Aber es war keine Frau gewesen, sondern ein Mann, ein fremder, sonderbar eleganter Mann.
    Als sie jetzt nur daran dachte, an den beschwörenden Gesichtsausdruck des Wesens, spürte sie den Schrecken der Nacht von neuem. Sie drehte sich um und schaute beunruhigt zu der Glaswand hinüber. Da war natürlich nichts als der weite, leere blaue Himmel über den dunklen Bergen in der Ferne und das blitzende, funkelnde Panorama der Bay.
    Aber was immer es gewesen war, es erschien ihr jetzt unklar, bedeutungslos, ja, trivial neben der Tatsache, daß ihre Mutter gestorben war. Damit hatte sie sich jetzt zu befassen. Und sie vergeudete hier kostbare Zeit.
    Sie rappelte sich auf, ging zum Telephon und rief Dr. Larkin zu Hause an.
    »Lark, ich brauche Urlaub«, sagte sie. »Es ist unvermeidlich. Können wir über meine Vertretung durch Slattery reden?«
    Wie cool ihre Stimme klang, ganz wie die alte Rowan. Aber das war eine Lüge. Während sie sprach, starrte sie die Glaswand an, den leeren Platz auf der Veranda, wo das große, schlanke Wesen gestanden hatte. Wieder sah sie seine dunklen Augen, die ihr forschend ins Gesicht blickten, und sie hatte kaum Ohren für das, was Lark sagte. Ausgeschlossen, dachte sie, daß ich mir dieses verdammte Ding eingebildet habe.

 
    11
     
     
    Die Fahrt zum Refugium der Talamasca dauerte weniger als anderthalb Stunden. Als sie ankamen, hatte Michael eine ziemlich gute Vorstellung von dem, was die Talamasca war, und er hatte Aaron versprochen, für allezeit vertraulich zu behandeln, was er in der Akte lesen würde. Michael war entzückt von der Idee der Talamasca; er war entzückt von der vornehmen, zivilisierten Art, in der Aaron alles darstellte, und mehr als einmal dachte er bei sich, daß er sich, wäre er nicht wild dazu entschlossen, seinen »Auftrag« auszuführen, mit Freuden der Talamasca angeschlossen hätte.
    »Alles, was Sie mir erzählt haben, klingt vertraut; ich habe ein Gefühl des Wiedererkennens, genau wie gestern abend, als ich das Haus sah. Und Sie wissen selbstverständlich, daß die Talamasca mir nicht vertraut sein konnte, daß ich unmöglich von Ihnen gehört und es wieder vergessen haben kann – es sei denn, sie hätten es mir erzählt, als ich ertrunken war. Worauf ich aber hinauswill: Meine Zuneigung zu Rowan fühlt sich nicht vertraut an. Sie fühlt sich nicht an wie etwas, das vorbestimmt war. Sie ist frisch, und in meiner Vorstellung ist sie irgend wie mit Rebellion verknüpft. Ja, ich erinnere mich, als ich da draußen bei ihr zu Hause war, wissen Sie, in Tiburon, beim Frühstück, da habe ich aufs Wasser hinausgeschaut und beinahe trotzig zu den Wesen gesagt, daß diese Sache mit Rowan mir etwas bedeutet.«
    Aaron hörte ihm aufmerksam zu, wie er es die ganze Zeit über getan hatte.
    Als sie von der Uferstraße aus links abgebogen und durch das Tor des Anwesens gefahren waren, erkannte Michael es aus seinen Bildbänden. Die eichengesäumte Allee war im Laufe der Jahrzehnte unzählige Male photographiert worden. In ihrer traumhaften Üppigkeit schien sie geradewegs einem Südstaaten-Schauerroman zu entspringen. Riesenhafte, schwarzborkige Bäume streckten ihre knorrigen, schweren Äste aus und bildeten ein dichtes Dach aus plumpen, zerklüfteten Zweigen, das sich bis zu den Veranden des Hauses erstreckte.
    Dicke Strähnen von grauem Spanischen Moos hingen von den tiefen, knotigen Ellbogen der Äste. Wurzeln wölbten sich zu beiden Seiten des schmalen, ausgefahrenen Weges drängend zueinander.
    Tiefer und tiefer drang der Wagen in den Tunnel aus grünem Licht ein;

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