Hexenstunde
einrichten läßt. Nochmals: Ich habe nicht die Mittel, dich hier aufzunehmen.«
Sorgfältig und immer noch auf die gleiche müde Weise nannte sie Rowan die Adresse. »Haben Sie gesagt, First Street?« fragte Rowan. Das war die Straße, die Michael ihr beschrieben hatte; dessen war sie sicher. »Das war das Haus meiner Mutter?«
»Ich bin die ganze Nacht wach gewesen«, sagte die Frau langsam und kraftlos. »Wenn du schon kommst, kann man dir alles erklären, wenn du hier bist.«
Rowan wollte noch eine Frage stellen, als die Frau zu ihrer Verwunderung auflegte.
Sie war so erbost, daß sie eine Zeitlang keinen Schmerz fühlte. Sie warf den Hörer auf die Gabel, biß sich auf die Lippe und verschränkte die Arme. »Gott, was für eine furchtbare, furchtbare Frau«, flüsterte sie.
Aber jetzt war keine Zeit, zu weinen oder sich Michael herbeizuwünschen. Hastig zog sie ihr Taschentuch hervor, putzte sich die Nase und wischte sich über die Augen, und dann zog sie Block und Stift auf der Küchentheke zu sich heran und notierte, was die Frau ihr gesagt hatte.
First Street, dachte sie und betrachtete, was sie geschrieben hatte. Wahrscheinlich nicht mehr als ein Zufall. Und Lonigan und Söhne, die Worte, die Ellie im Delirium geflüstert hatte, als sie endlos von ihrer Kindheit und von zu Hause geredet hatte. Rasch rief sie die Auskunft von New Orleans und dann das Beerdigungsinstitut an.
Ein Mr. Jerry Lonigan meldete sich.
»Mein Name ist Dr. Rowan Mayfair, und ich rufe aus Kalifornien an. Es geht um eine Beerdigung.«
»Ja, Dr. Mayfair«, sagte eine überaus angenehme Stimme, die sie sofort an Michael denken ließ. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Ihre Mutter jetzt hier.« Gott sei Dank – keine Ausflüchte, kein Anlaß für ausführliche Erklärungen. Trotzdem fragte sie sich unwillkürlich, woher der Mann sie kannte. War nicht die ganze Adoptionsgeschichte heimlich und verstohlen durchgeführt worden?
»Mr. Lonigan«, sagte sie und bemühte sich, deutlich zu sprechen und den gepreßten Klang ihrer Stimme zu überhören, »es ist mir sehr wichtig, daß ich vor der Beerdigung dort bin. Ich möchte meine Mutter sehen, ehe sie begraben wird.«
»Natürlich, Dr. Mayfair, das verstehe ich. Aber Miss Carlotta hat gerade angerufen und gesagt, wenn wir sie morgen nicht bestatten… Nun, sagen wir einfach, sie besteht darauf, Dr. Mayfair. Ich kann die Totenmesse für spätestens fünfzehn Uhr ansetzen. Glauben Sie, bis dahin werden Sie es schaffen, Dr. Mayfair? Ich versuche mein Möglichstes, das ganze hinauszuschieben.«
»Ja, absolut, das schaffe ich«, sagte Rowan. »Ich fliege heute abend oder spätestens morgen früh. Aber, Mr. Lonigan – wenn ich Verspätung haben sollte…«
»Dr. Mayfair, ich weiß ja jetzt, daß Sie unterwegs sind; also werde ich den Sarg nicht verschließen, bevor Sie hier sind.«
»Hören Sie, ich gebe Ihnen meine Rufnummer im Krankenhaus. Falls irgend etwas dazwischenkommen sollte, rufen Sie mich bitte an.«
Er notierte sich die Nummer. »Keine Sorge, Dr. Mayfair. Ihre Mutter wird bei Lonigan und Söhne sein, wenn Sie kommen.«
Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Er klang so einfach und so hoffnungslos aufrichtig. »Mr. Lonigan, können Sie mir noch etwas sagen?« Ihre Stimme zitterte jetzt sehr.
»Ja, Dr. Mayfair?«
»Wie alt war meine Mutter?«
»Achtundvierzig, Dr. Mayfair.«
»Wie hieß sie?«
Offenbar überraschte ihn diese Frage, aber er faßte sich sofort wieder. »Deirdre hieß sie, Dr. Mayfair. Sie war sehr hübsch. Meine Frau war mit ihr gut befreundet. Sie hat sie geliebt, und früher hat sie sie immer besucht. Meine Frau ist jetzt hier bei mir. Sie ist froh, daß Sie angerufen haben.«
Aus irgendeinem Grund berührte Rowan dies fast ebenso tief, wie all die anderen Neuigkeiten sie berührt hatten. Sie drückte das Taschentuch fest an die Augen und schluckte.
»Können Sie mir sagen, Mr. Lonigan, woran meine Mutter gestorben ist? Was steht auf dem Totenschein?«
»Eine natürliche Todesursache, steht da, Dr. Mayfair, aber Ihre Mutter war krank, sehr krank, und das seit vielen Jahren. Ich kann Ihnen den Namen des Arztes geben, der sie behandelt hat. Ich denke, er wird mit Ihnen reden, da Sie ja selbst Ärztin sind.«
»Geben Sie ihn mir, wenn ich komme«, sagte Rowan. Sie konnte die Tränen kaum mehr unterdrücken. Schnell und leise putzte sie sich die Nase. »Mr. Lonigan, ich habe hier den Namen eines Hotels. Das Pontchartrain. Komme ich von dort
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