Hexenstunde
bemerkte ich Julien Mayfairs Porträt, und mit einem Schock erkannte ich, daß er es gewesen war, den ich vorhin am Bett der Toten gesehen hatte. Tatsächlich geschah dann etwas sehr Merkwürdiges. Ich war so erschrocken, als ich das Porträt sah, daß ich herausplatzte: ›Das ist der Mann!‹
Und irgend jemand stand im Gang und rauchte – glaube ich-, und er blickte auf, sah mich, sah das Porträt zur Linken und sagte mit leisem Lachen: ›O nein, das ist nicht der Mann. Das ist Julien.‹
Ich habe Cortland später alles erzählt, und er war überhaupt nicht bestürzt. Er hörte sich alles an und sagte dann, er sei froh, daß ich es ihm erzählt hätte. Aber er habe nichts Besonderes in dem Zimmer bemerkt.
Jetzt dürfen Sie aber nicht losziehen und diese Geschichte allen möglichen Leuten erzählen. Geister sind etwas ziemlich Normales in New Orleans, aber Ärzte, die sie sehen, sind es nicht! Ich glaube auch nicht, daß Cortland es schätzen würde, wenn ich diese Sache erzähle. Pierce gegenüber habe ich natürlich nie davon gesprochen. Was Stella angeht – nun, offengestanden bezweifle ich, daß Stella solche Dinge überhaupt kümmern. Falls Stella überhaupt etwas kümmert, wüßte ich gern, was es ist.«
Mary Beths Beerdigung war gewaltig, genau wie ihre Hochzeit es sechsundzwanzig Jahre zuvor gewesen war. Alle waren der Meinung, daß Daniel McIntyre nicht die ganze Zeremonie durchstehen würde. Carlotta brachte ihn also nach Hause und kehrte zur Beerdigungsgesellschaft zurück, ehe die Messe zu Ende war.
Vor der Bestattung auf dem Friedhof Lafayette wurden mehrere kurze Reden gehalten. Pierce Mayfair sprach von Mary Beth als einer großen Mentorin; Cortland pries sie wegen ihrer Liebe zur Familie und wegen ihrer Großzügigkeit. Barclay Mayfair sagte, Mary Beth sei unersetzlich; wer sie gekannt und geliebt habe, werde sie niemals vergessen. Lionel hatte alle Hände voll zu tun, um die trauernde Belle und die weinende Millie Dear zu trösten.
Die kleine Antha war nicht dabei, und auch die kleine Nancy nicht (eine bereits erwähnte adoptierte Mayfair, die Mary Beth jedermann als Stellas Tochter vorstellte).
Stella war niedergeschlagen – aber nicht so sehr, daß sie nicht Dutzende von Verwandten sowie den Bestatter und zahlreiche Freunde der Familie damit schockiert hätte, daß sie während der letzten Reden auf dem Nachbargrab saß, die Beine baumeln ließ und aus der berühmten Flasche in der braunen Tüte ihren Schnaps trank. Als Barclay seine Rede zu Ende führen wollte, sagte sie ziemlich laut zu ihm: »Barclay, mach schon! Sie hat so was gehaßt. Gleich steht sie von den Toten auf und sagt, du sollst die Klappe halten, wenn du nicht aufhörst.«
Der Bestattungsunternehmer bemerkte, daß mehrere Verwandte über diese Bemerkung lachten und daß andere ein Lachen nur mit Mühe unterdrücken konnten. Auch Barclay lachte, und Cortland und Pierce grinsten. Es scheint, daß die Familie je nach ethnischer Linie geteilte Reaktionen zeigte; in einem Bericht heißt es jedenfalls, daß die französischen Verwandten von Stellas Benehmen äußerst peinlich berührt waren, während die irischen Mayfairs alle lachten.
Aber dann putzte Barclay sich die Nase und sagte: »Lebewohl, Geliebte«, und er küßte den Sarg, trat rückwärts zurück in die Arme von Cortland und Garland und fing an zu schluchzen.
Stella hüpfte vom Nachbargrab herunter, kam zum Sarg und küßte ihn, und dann sagte sie zu dem Priester: »Also, Pater, machen Sie weiter.«
Während die letzten lateinischen Worte gesprochen wurden, zupfte Stella eine Rose aus den Grabgebinden, brach den Stiel auf eine handliche Länge und steckte sich die Blume ins Haar.
Die engsten Verwandten zogen sich in das Haus in der First Street zurück, und schon vor Mitternacht schallte so laute Klaviermusik und Gesang aus dem Haus, daß die Nachbarn schockiert waren.
Als Richter McIntyre starb, war die Beerdigung viel kleiner, aber außergewöhnlich traurig. Viele Mayfairs hatten ihn sehr geliebt, und manche Träne floß.
Ehe wir fortfahren, wollen wir noch einmal vermerken, daß Mary Beth unseres Wissens die letzte wirklich starke Hexe war, die diese Familie hervorbrachte. Man kann nur darüber spekulieren, was sie mit ihrer Macht angestellt hätte, wenn sie nicht so sehr an der Familie gehangen hätte, so durch und durch praktisch und so absolut gleichgültig gegen jegliche Eitelkeit oder Verruchtheit gewesen wäre. So kam alles, was sie tat, letzten
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