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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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»Stella ist so, wie ich gern wäre, wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte. Ich habe zu schwer für zu wenig gearbeitet. Sie soll sich amüsieren.«
    Wir müssen anmerken, daß Mary Beth bereits schwer krank und möglicherweise sehr erschöpft war, als sie dies sagte. Auch war sie eine viel zu kluge Frau, als daß ihr die diversen kulturellen Revolutionen der zwanziger Jahre hätten entgangen sein können, die einem Leser der vorliegenden Erzählung im Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts vielleicht nur noch schwer nachvollziehbar sind.
    Die echte sexuelle Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts begann in seinem tumulthaften dritten Jahrzehnt mit einer der dramatischsten Veränderungen weiblicher Garderobe, die die Welt je erlebt hat. Aber die Frauen warfen nicht nur Korsette und lange Kleider weg, sondern auch die altmodischen Sitten; sie tranken und tanzten in den Flüsterkneipen, wie es in dieser Weise nur zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Das verbreitete Aufkommen des geschlossenen Automobils gab jedem eine Art von Privatsphäre, wie sie noch nie dagewesen war, und überdies große Mobilität. Das Radio erreichte die Menschen zu Hause, auf dem Land wie in der Großstadt. Das Kino brachte der ganzen Welt ein Bild von »Glamour und Verruchtheit«. Illustrierte, Literatur, Theater- alles verwandelte sich radikal durch eine neue Offenheit, Freiheit, Toleranz und Ausdrucksmöglichkeit.
    1925 wurde bei Mary Beth ein unheilbarer Krebs diagnostiziert; danach lebte sie nur noch fünf Monate, und die meiste Zeit über hatte sie so starke Schmerzen, daß sie das Haus nicht mehr verließ.
    Sie zog sich in das nördliche Schlafzimmer über der Bibliothek zurück und verbrachte ihre letzten schmerzfreien Tage damit, die Romane zu lesen, zu deren Lektüre sie als Mädchen nie gekommen war. Sie bekam Besuch von vielen Mayfairs, die ihr Ausgaben verschiedenster Klassiker brachten. Mary Beth äußerte ein besonderes Interesse an den Schwestern Brontë, an Dickens (den Julien ihr vorgelesen hatte, als sie klein war) und an etlichen anderen englischen Klassikern; sie war entschlossen, sie noch zu lesen, ehe sie starb.
    Daniel McIntyre war entsetzt über die Aussicht, daß seine Frau ihn verlassen könnte. Als man ihm klargemacht hatte, daß Mary Beth nicht wieder genesen würde, begann er seine letzte Sauftour, und allem Klatsch und späteren Legenden zufolge hat man ihn nie wieder nüchtern gesehen.
    In dieser Zeit zog Carlotta zurück ins Haus, um nah bei ihrer Mutter sein zu können, und tatsächlich saß sie auch manchen langen Abend hindurch bei ihr. Als Mary Beth vor lauter Schmerzen nicht mehr lesen konnte, bat sie Carlotta, ihr vorzulesen, und die Familienlegende berichtet, Carlotta habe ihr Die Sturmhöhe ganz und Jane Eyre zum Teil vorgelesen.
    Auch Stella zeigte beständige Fürsorge. Sie hörte auf, sich herumzutreiben, und verbrachte ihre Zeit damit, für ihre Mutter zu kochen – obwohl diese oft zu krank war, um zu essen – und sich telefonisch und schriftlich bei Ärzten in der ganzen Welt nach Heilungsmöglichkeiten zu erkundigen.
    Endlich, am Nachmittag des 11. September 1925, verlor Mary Beth das Bewußtsein. Der Priester, der dabei war, vermerkt einen mächtigen Donnerschlag. »Und dann begann es in Strömen zu regnen.« Stella verließ das Zimmer und ging hinunter in die Bibliothek, und von dort rief sie die Mayfairs in ganz Louisiana und sogar die Verwandten in New York an.
    Der Priester, das Hauspersonal und die zahlreichen Nachbarn berichten, daß die ersten Mayfairs gegen vier Uhr erschienen und die nächsten zwölf Stunden in stetem Strom eintrafen. Autos parkten in der ganzen First Street bis hinunter zur St. Charles Avenue und in der Chestnut Street von der Jackson bis zur Washington.
    Der »Wolkenbruch« hörte nicht auf; er ließ für ein paar Stunden nach und wurde zu einem Nieselregen, setzte dann aber mit voller Wucht wieder ein. Es regnete im ganzen Garden District, aber nirgendwo sonst in der Stadt; von diesem Umstand indessen nahm niemand sonderlich Notiz.
    Andererseits erschien die Mehrheit der Mayfairs aus New Orleans mit Schirmen und Regenmänteln ausgerüstet, als hätten sie ein solches Unwetter durchaus erwartet.
    Die Hausdiener huschten umher und servierten den Verwandten Kaffee und geschmuggelten europäischen Wein; Salon und Bibliothek, Hausflur und Eßzimmer füllten sich, und sogar auf der Treppe saßen Leute.
    Gegen Mitternacht begann der Wind zu heulen. Die

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