Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
riesigen Eichen schwankten so heftig, daß manche fürchteten, die Äste könnten abbrechen. Ein Regen von Laub wirbelte herunter.
    In Mary Beths Schlafzimmer drängten sich ihre Kinder, Nichten und Neffen, aber man wahrte respektvolle Stille. Carlotta und Stella saßen an der anderen Seite des Bettes, der Tür gegenüber, und die Verwandten kamen und gingen auf Zehenspitzen.
    Daniel McIntyre war nirgends zu sehen; die Legende weiß, daß er volltrunken in Carlottas Apartment über den Stallungen im Bett lag.
    Gegen ein Uhr fünfunddreißig verspürte der behandelnde Arzt, Dr. Lyndon Hart, eine seltsame Verwirrtheit. Er gestand später mehreren Kollegen, im Zimmer sei »etwas Merkwürdiges« geschehen.
    Irwin Dandrich bekam 1929 von ihm den folgenden Bericht.
    »Ich wußte, es ging zu Ende mit ihr. Ich kontrollierte schon nicht mehr ihren Puls. Es kam mir so würdelos vor, immer wieder hinzugehen, nur um dann den anderen zuzunicken, wenn sie immer noch lebte. Und jedesmal, wenn ich mich dem Bett näherte, merkten die Verwandten es natürlich, und man hörte besorgtes Getuschel im Flur.
    Die letzte Stunde über tat ich also gar nichts. Ich beobachtete sie und wartete ab. Nur die engsten Verwandten waren um das Bett versammelt. Sie lag mit halb offenen Augen da und hatte Stella und Carlotta den Kopf zugewandt. Carlotta hielt ihre Hand. Sie atmete sehr unregelmäßig. Ich hatte ihr so viel Morphium gegeben, wie ich wagte.
    Und dann geschah es. Vielleicht war ich eingeschlafen, und es war ein Traum, aber damals kam mir alles sehr real vor – daß nämlich plötzlich eine ganze Gruppe von völlig anderen Personen anwesend war: Eine alte Frau zum Beispiel, die ich kannte und doch nicht kannte, beugte sich über Mary Beth, und ein sehr großer alter Herr war auch da, der mir entschieden bekannt vorkam. Eigentlich waren plötzlich alle möglichen Leute da. Ein junger Mann, ein blasser junger Mann, sehr adrett in wunderschöner, altmodischer Kleidung, beugte sich über sie und küßte sie auf die Lippen, und dann drückte er ihr die Augen zu.
    Ich sprang erschrocken auf. Die Verwandten draußen im Flur weinten. Jemand schluchzte. Ich hörte auch Cortland Mayfair weinen. Und der Regen war wieder zu einem richtigen Wolkenbruch geworden. Der Donner war ohrenbetäubend. Im Schein eines plötzlichen Blitzes sah ich, daß Stella mich anstarrte, und ihr Blick war über die Maßen teilnahmslos und elend. Carlotta weinte. Und ich wußte, daß meine Patientin tot war, ganz ohne Zweifel, und tatsächlich waren ihre Augen geschlossen.
    Ich habe es mir nie wirklich erklären können. Ich habe Mary Beth sofort untersucht und bestätigt, daß es zu Ende war. Aber sie wußten es schon. Sie wußten es alle. Ich schaute mich um und bemühte mich verzweifelt, meine augenblickliche Verwirrung zu verbergen, und ich sah die kleine Antha in der Ecke, ein, zwei Schritte hinter ihrer Mutter, und der große junge Mann war bei ihr, und dann war er plötzlich nicht mehr da. Ja, er war so plötzlich verschwunden, daß ich gar nicht sicher bin, ob ich ihn überhaupt gesehen hatte.
    Aber ich sage Ihnen, warum ich glaube, daß er wirklich da war. Jemand anders hat ihn auch gesehen: Pierce Mayfair, Cortlands Sohn. Ich drehte mich um, als der junge Mann verschwunden war, und sah sofort, daß Pierce auf dieselbe Stelle starrte. Er starrte zur kleinen Antha hinüber, und dann sah er mich an. Sofort versuchte er, ganz natürlich auszusehen, als ob überhaupt nichts gewesen wäre, aber ich weiß, er hatte den Mann gesehen.
    Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, keiner von denen im Krankenzimmer nahm auch nur die geringste Notiz von mir. Die Mädchen machten sich daran, Mary Beth das Gesicht zu waschen und sie zurechtzumachen, damit die Verwandten hereinkommen und sie ein letztes Mal sehen konnten. Jemand zündete neue Kerzen an. Und der Regen – der Regen war einfach furchtbar. Eine Sintflut strömte da an den Fenstern herunter.
    Meine nächste Erinnerung ist die, daß ich mich durch eine lange Reihe von Verwandten drängte, um die Treppe hinunterzugelangen. Dann war ich mit Pfarrer McKenzie in der Bibliothek und füllte den Totenschein aus. Der Pfarrer saß mit Belle auf dem Ledersofa und versuchte sie zu trösten; er erzählte ihr all das Übliche: daß ihre Mutter im Himmel sei und daß sie sie wiedersehen würde. Die arme Belle. Sie sagte immer nur: ›Ich will nicht, daß sie in den Himmel geht. Ich will sie sofort wiedersehen.‹
    Erst als ich ging,

Weitere Kostenlose Bücher