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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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solchen Kontakt bewerkstelligen? Und hier kommen wir ja zu einem unserer höchsten Ziele. Konnte die unbekümmerte Stella nicht einen Nutzen daraus ziehen, daß sie andere Menschen kennen lernte, die so waren wie sie? Würde es ihr nicht gefallen zu wissen, daß es Leute gab, die solche Menschen studierten, um letztendlich das Reich des Unsichtbaren zu verstehen? Mit anderen Worten: Würde Stella nicht gern mit uns sprechen? Würde sie nicht gern erfahren, was wir über die übersinnliche Welt insgesamt wußten?
    Der Rat erwog alles, was Stuart zu sagen hatte; er erwog, was er über die Mayfair-Hexen wußte, und er kam zu dem Schluß, daß die guten Gründe für eine Kontaktaufnahme die Gründe dagegen bei weitem überwogen. Die Vorstellung, daß damit eine Gefahr verbunden sein könnte, verwarf er auf der Stelle. Und er teilte Stuart mit, er dürfe nach Amerika reisen und Kontakt zu Stella aufnehmen.
    In hitziger Aufregung bestieg Stuart schon am nächsten Tag ein Schiff nach New York. Die Talamasca erhielt zwei Briefe von ihm, die in New York abgestempelt waren. Noch einmal schrieb er, als er in New Orleans angelangt war – auf dem Briefpapier des St. Charles Hotels -, und er teilte uns mit, er habe sich bei Stella gemeldet und sie in der Tat überaus empfänglich gefunden; er werde sich nun am nächsten Tag mit ihr zum Lunch treffen.
    Man hat nie wieder etwas von Stuart Townsend gesehen oder gehört. Wir wissen nicht, wo oder wann sein Leben endete – oder ob überhaupt. Wir wissen nur, daß er irgendwann im Juni 1929 spurlos verschwand.
     
    DAS LEBEN DES STUART TOWNSEND
     
    Wieviel von Stuarts Leben für das, was ihm widerfuhr, oder für die Geschichte der Mayfair-Hexen von Bedeutung ist, kann ich nicht sagen. Ich weiß, daß ich in diesen Bericht mehr aufnehme, als aufgenommen werden müßte – zumal angesichts des wenigen, was ich später über Arthur Langtry sage, wie ich hinzufügen muß.
    Ich glaube, ich habe dieses Material hier gleichsam zum Gedenken an Stuart aufgenommen, und auch als eine Art Warnung. Aber wie dem auch sei…
    Der Orden wurde auf Stuart aufmerksam, als er zweiundzwanzig Jahre alt war. Unser Büro in London erhielt von einem der vielen Beobachter in Amerika einen kleinen Zeitungsausschnitt über Stuart Townsend, »den Jungen, der zehn Jahre lang jemand anders gewesen war«.
    Stuart wurde 1895 in einer Kleinstadt in Texas geboren. Sein Vater war der Arzt des Ortes, ein zutiefst intellektueller und weit und breit geachteter Mann. Stuarts Mutter stammte aus einer wohlhabenden Familie; sie befaßte sich mit wohltätigen Aktivitäten der modischen Art, wie es für Damen in ihrer Position üblich war. Sie hatte zwei Kindermädchen für ihre sieben Kinder, von denen Stuart das erstgeborene war. Sie wohnten in einem großen weißen Viktorianischen Haus in der einzigen vornehmen Straße der Stadt.
    Stuart kam mit sechs Jahren in ein Internat nach New England. Er war von Anfang an ein außergewöhnlicher Schüler, und wenn er in den Sommerferien nach Hause kam, zeigte er sich als Einsiedler, der bis tief in die Nacht hinein in seinem Dachzimmer Bücher las. Dennoch hatte er etliche Freunde in der zahlenmäßig begrenzten, aber lebensfrohen Oberschicht der Stadt – Söhne und Töchter von städtischen Beamten, Rechtsanwälten und wohlhabenden Ranchern -, und anscheinend war er sehr beliebt.
    Mit zehn Jahren erkrankte Stuart an einem schweren Fieber, das nicht diagnostiziert werden konnte. Sein Vater kam irgendwann zu dem Schluß, daß es sich um eine Infektion handeln müsse, aber eine echte Erklärung fand sich nie. Stuart geriet in eine Krise und lag zwei Tage im Delirium. Als er zu sich kam, war er nicht mehr Stuart. Er war jemand anders. Dieser Jemand behauptete, eine junge Frau namens Antoinette Fielding zu sein, die mit französischem Akzent sprach und wunderschön Klavier spielte; sie war offenbar völlig ratlos hinsichtlich der Frage, wie alt sie war, wo sie wohnte und was sie in Stuarts Haus zu suchen hatte.
    Stuart selbst sprach ein wenig Französisch, aber er konnte nicht Klavier spielen. Und als er sich an den verstaubten Konzertflügel im Salon setzte und anfing, Chopin zu spielen, glaubte seine Familie den Verstand zu verlieren.
    Daß er sich für ein Mädchen hielt und jämmerlich zu weinen anfing, wenn er sein Abbild im Spiegel erblickte, konnte seine Mutter nicht ertragen, und so lief sie nicht selten vollkommen aufgelöst aus dem Zimmer. Nachdem sie sich ungefähr eine Woche

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