Hexenstunde
lang hysterisch und höchst depressiv aufgeführt hatte, konnte man Stuart-Antoinette überreden, nicht länger um Kleider zu bitten, die Tatsache zu akzeptieren, daß sie nun den Körper eines Jungen hatte, zu glauben, daß sie nun Stuart Townsend war, und weiterhin das zu tun, was von Stuart erwartet wurde.
Aber die Rückkehr zur Schule kam nicht in Frage. Und Stuart-Antoinette, die in der Familie aus Gründen der Einfachheit bald Tony genannt wurde, verbrachte ihre Tage mit endlosem Klavierspiel und kritzelte ein großes Tagebuch mit ihren Erinnerungen voll, während sie das Geheimnis ihrer Identität zu ergründen versuchte.
Beim Studium dieser handschriftlichen Erinnerungen stellte Dr. Townsend fest, daß das Französisch, in dem sie verfaßt waren, weit über das Niveau der Kenntnisse hinausreichte, die der zehnjährige Stuart erlangt hatte. Er merkte überdies, daß sich die Erinnerungen des Kindes alle auf Paris bezogen, und zwar auf das Paris der vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, wie direkte Verweise auf Opern, Theaterstücke und Transportmittel deutlich zeigten.
Aus diesen schriftlichen Aufzeichnungen ging hervor, daß Antoinette Fielding englisch-französische Eltern hatte, daß ihr französischer Vater die englische Mutter – Louisa Fielding – nicht geheiratet hatte und daß sie ein seltsames und zurückgezogenes Leben in Paris geführt hatte, die verzärtelte Tochter einer hochklassigen Prostituierten, die bemüht war, ihr einziges Kind vor dem Schmutz der Straße zu beschützen. Ihr großes Talent und ihr Trost war die Musik.
Dr. Townsend war fasziniert; er versicherte seiner Frau, er werde dem Geheimnis auf den Grund gehen, und zog per Post Erkundigungen ein, um heraus zu finden, ob es in Paris je eine Person namens Antoinette Fielding gegeben hatte.
Dies beschäftigte ihn etwa fünf Jahre lang.
In dieser Zeit blieb »Antoinette« in Stuarts Körper, spielte wie besessen Klavier und ging, wenn sie sich schon einmal aus dem Haus wagte, bei irgendeinem schrecklichen Zusammenstoß mit Straßenjungen rettungslos unter. Schließlich verließ sie das Haus überhaupt nicht mehr und wurde so etwas wie eine hysterische Invalidin; sie verlangte, daß man ihr das Essen vor die Tür stellte, und kam nur noch nachts herunter, um Klavier zu spielen.
Schließlich erfuhr Dr. Townsend durch einen Privatdetektiv aus Paris, daß dort 1865 eine gewisse Louisa Fielding ermordet worden war. Sie war tatsächlich eine Prostituierte gewesen, aber es gab keinen aktenkundigen Hinweis auf ein Kind. Dr. Townsend war schließlich in einer Sackgasse angelangt, und so fand er sich mit der Situation ab, so gut es ging.
Sein hübscher Sohn Stuart war für immer verschwunden, und an seiner Stelle saß ein ausgezehrter, verkümmerter Invalide, ein bleicher Junge mit brennenden Augen und einer seltsam geschlechtslosen Stimme, der jetzt nur noch hinter geschlossenen Fensterläden lebte. Der Arzt und seine Frau gewöhnten sich an die nächtlichen Klavierkonzerte. Ab und zu ging er hinauf, um mit dem fahlgesichtigen »femininen« Geschöpf zu sprechen, das da unter seinem Dach wohnte. Daß es geistig verfiel, war nicht zu übersehen. Das Geschöpf konnte sich an seine »Vergangenheit« inzwischen kaum noch erinnern. Gleichwohl unterhielten sie sich freundlich ein Weilchen in englischer oder französischer Sprache; dann wandte sich der ausgemergelte, leidgeprüfte junge Mensch wieder seinen Büchern zu, als wäre der Vater nicht da, und der Vater ging.
So ging es, bis Stuart zwanzig Jahre alt war. Dann fiel er eines Nachts die Treppe hinunter und zog sich eine schwere Gehirnerschütterung zu. Der Arzt fand seinen Sohn bewußtlos im Hausflur und brachte ihn eilends ins Ortskrankenhaus, wo Stuart zwei Wochen im Koma lag.
Als er aufwachte, war er Stuart. Er hatte absolut keine Erinnerung daran, irgendwann einmal jemand anders gewesen zu sein. Er hielt sich für zehn Jahre alt, und als er die Männerstimme aus seinem Mund hörte, war er entsetzt. Als er entdeckte, daß er einen erwachsenen Körper hatte, war er schockiert.
Wie vom Donner gerührt saß er in seinem Krankenhausbett und ließ sich erzählen, was in den letzten zehn Jahren mit ihm geschehen war. Natürlich verstand er kaum Französisch; in der Schule war es ihm ein Greuel gewesen. Und selbstverständlich konnte er auch nicht Klavier spielen. Jeder wußte doch, daß er unmusikalisch war. Er konnte ja nicht einmal eine Melodie singen.
In den nächsten Wochen
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