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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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seinen Namen flüsterte – »Ryan Mayfair« -, wobei er der alten Frau einen bangen Blick zuwarf. Rowen begriff, daß er der Vater des jungen Pierce war.
    Und dann traten alle in das riesige Kirchenschiff; die ganze Versammlung folgte dem Sarg auf seiner rollenden Bahre. Schritte hallten leise und laut unter den anmutigen gotischen Spitzbögen, und Licht fiel gleißend durch prächtige Buntglasfenster auf die fein bemalten Statuen der Heiligen.
    Es mußten tausend Leute sein, die hier versammelt waren; Kinder weinten schrill, bevor ihre Mütter sie zischelnd zum Schweigen brachten, und die Worte des Priesters schallten durch die weite Leere wie ein Lied.
    Die aufrechte alte Frau an ihrer Seite sprach kein Wort mit ihr. Mit ausgemergelten, zerbrechlich aussehenden Händen hielt sie mit bewundernswerter Kompetenz ein schweres Buch voll leuchtend bunter Heiligenbilder. Ihr weißes, zu einem Knoten nach hinten gebundenes Haar schmiegte sich dicht und schwer an ihren kleinen Schädel unter dem krempenlosen schwarzen Filzhut. Aaron Lightner hielt sich im Halbdunkel neben dem Eingangsportal; Rowan hätte ihn gern neben sich gehabt. Beatrice Mayfair saß leise weinend in der zweiten Bankreihe. Pierce hatte an Rowans anderer Seite Platz genommen; mit verschränkten Armen starrte er verträumt auf die Statuen am Altar und auf die gemalten Engel hoch über ihnen. Sein Vater schien in eine ähnliche Trance verfallen zu sein, wenngleich er sich einmal umdrehte und Rowan mit seinen scharfen blauen Augen aufmerksam und selbstvergessen fixierte.
    Zu Hunderten erhoben sie sich, um zur Heiligen Kommunion zu gehen, die Alten, die Jungen, die kleinen Kinder. Carlotta lehnte es ab, sich helfen zu lassen, und die Gummispitze ihres Gehstocks tappte dumpf auf den Boden, als sie nach vorn ging und wieder zurück kam und sich gebeugten Hauptes auf die Kniebank sinken ließ, um ihre Gebete zu sprechen. Sie war so mager, daß das dunkle Gabardine-Kostüm aussah, als sei es ohne Inhalt, wie ein Kleidungsstück auf dem Bügel, ohne die Konturen eines Körpers darin; ihre Beine staken wie Stöcke in den dickledernen Schnürschuhen.
    Weihrauchgeruch entstieg dem silbernen Rauchfaß, als der Priester den Sarg umkreiste. Endlich zog die Prozession hinaus zu der wartenden Autoschlange auf der baumlosen Straße. Ein paar Dutzend kleine schwarze Kinder – etliche barfuß, andere ohne Hemd – hatten sich auf dem rissigen Asphalt vor einer schäbigen, heruntergekommenen Turnhalle versammelt und schauten zu. Schwarze Frauen standen stirnrunzelnd in der Sonne, die nackten Arme verschränkt.
    Kann das wirklich Amerika sein?
    Und dann wälzte sich die Karawane Stoßstange an Stoßstange durch den dichten Schatten des Garden District, zu beiden Seiten begleitet von Dutzenden von Fußgängern und von voraushüpfenden Kindern im tiefgrünen Licht.
    Der ummauerte Friedhof war eine regelrechte Stadt von Grabgewölben mit spitzen Dächern, teils auch mit eigenen kleinen Gärten; Wege führten hierhin und dorthin, vorbei an einer baufälligen Gruft oder einem großartigen Denkmal für Feuerwehrleute aus einer anderen Ära, für die Waisen dieses oder jenes Heimes oder für die Reichen, die Zeit und Geld genug gehabt hatten, um ihre Gedichte in diese Steine meißeln zu lassen, mit Wörtern, die sich jetzt mit Staub gefüllt hatten und langsam verwitterten.
    Die Gruft der Mayfairs war gewaltig und von Blumen umgeben. Ein niedriger Eisenzaun umschloß das kleine Bauwerk, und an den vier Ecken des sanft abfallenden Peristyl-Daches standen marmorne Urnen. Drei Kammern enthielten zwölf sarggroße Gewölbe, und von einem hatte man die glatte Marmorplatte entfernt, so daß es nun dunkel und leer gähnte, um Deirdre Mayfairs Sarg aufzunehmen wie einen langen Brotlaib.
    Rowan sah sich höflich gedrängt, einen Platz in der vorderen Reihe einzunehmen; sie stand neben der alten Frau. Die Sonne blitzte auf den kleinen runden, silbern umrandeten Brillengläsern der alten Frau, die jetzt grimmig auf das Wort »Mayfair« starrte; in Riesenlettern stand es in dem flachen Dreieck des Peristyls.
    Auch Rowan schaute dorthin, und wieder war sie geblendet von den Blumen und den Gesichtern ringsum: in gedämpftem, respektvollem Ton erklärte ihr der junge Pierce, es gebe hier zwar nur zwölf Fächer, aber schon viele Mayfairs seien in dieser Gruft bestattet worden, wie die Steine davor ja verkündeten. Die alten Särge würden beizeiten zerlegt, um Platz für neue Bestattungen zu

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