Hexenstunde
schaffen; die Einzelteile legte man dann zusammen mit den Gebeinen in ein Gewölbe unter dieser Grabstätte.
Rowan schnappte leise nach Luft. »Dann sind sie also alle da unten«, wisperte sie halb erstaunt. »Kopfüber, kopfunter, unten drunter.«
»Nein. Sie sind in der Hölle oder im Himmel«, erwiderte Carlotta Mayfair, und ihre Stimme war so scharf und alterslos wie ihre Augen. Dabei wandte sie nicht einmal den Kopf.
Pierce zog sich zurück, als habe er Angst vor Carlotta; ein unbehagliches Lächeln huschte wie ein Blitz über sein Gesicht. Ryan starrte die alte Frau an.
Aber jetzt wurde der Sarg herangetragen; er ruhte tatsächlich auf den Schultern der Träger, deren Gesichter rot waren von der Anstrengung. Der Schweiß tropfte ihnen von den Stirnen, als sie ihre schwere Last auf den fahrbaren Untersatz stellten.
Es war Zeit für die letzten Gebete. Der Priester und sein Meßdiener waren wieder hier. Die Luft schien plötzlich zu stehen. Es war unglaublich heiß. Beatrice betupfte sich die geröteten Wangen mit einem gefalteten Taschentuch. Die Alten – mit Ausnahme von Carlotta – setzten sich, wo es ging, auf die Simse der Grabmäler der kleineren Grabstätten ringsum.
Rowan ließ den Blick an der Gruft nach oben wandern, zu dem verzierten Giebel mit dem Wort »Mayfair« in der Mitte, darüber ein Relief, eine gestreckte offene Tür. Oder war es ein großes Schlüsselloch? Sie war nicht sicher.
Als eine schwache, feuchte Brise erwachte und die steifen Blätter an den Bäumen am Weg rascheln ließ, da war es wie ein Wunder. Weit hinten, am Eingangstor, stand Aaron Lightner mit Rita Mae Lonigan, die sich ausgeweint hatte und jetzt nur noch verlassen aussah, wie jemand, der eine lange Nacht hindurch auf der Krankenstation bei Sterbenden gewacht hatte.
Selbst die Abschlußnote erschien Rowan wie eine Art pittoresker Wahnsinn. Denn als die Versammelten nun wieder dem Haupttor zuwanderten, sagte man ihr, daß ein kleiner Kreis von ihnen sich nunmehr in das elegante Restaurant auf der anderen Straßenseite begeben würde.
Mr. Lightner verabschiedete sich flüsternd von ihr und versprach, daß Michael bald kommen werde. Sie wollte gern mehr erfahren, aber die alte Frau starrte ihn an, kalt, zornig; das war ihm offensichtlich nicht entgangen, und nun hatte er es eilig, sich zurück zuziehen. Hilflos winkte Rowan ihm zum Abschied zu, und schon wieder wurde ihr von der Hitze übel. Rita Mae murmelte ihr ein trauriges Lebewohl zu. Hunderte verabschiedeten sich hastig im Vorübergehen; Hunderte kamen und umarmten die alte Frau; es schien auf ewig so weiterzugehen, und die Hitze lastete schwer auf ihr. »Wir unterhalten uns noch, Rowan.« »Bleibst du hier, Rowan?« »Auf Wiedersehen, Tante Carl. Du hast dich um sie gekümmert.« »Wir sehen uns bald, Tante Carl. Du mußt nach Metairie kommen.« »Tante Carl, ich rufe dich nächste Woche an.« »Tante Carl, kommst du zurecht?«
Schließlich war die Straße leer; nur der blitzende, gleichgültige Verkehr rauschte lärmend in stetem Strom vorbei, und ein paar gutgekleidete Leute kamen aus dem offensichtlich schicken Restaurant spaziert und spähten blinzelnd in das plötzlich so grelle Licht.
»Ich will da nicht hinein«, sagte die alte Frau. Sie starrte mit kaltem Blick auf die blauweißen Markisen.
»Ach, komm doch, Tante Carl, bitte, nur für ein Weilchen«, bat Beatrice Mayfair.
»Ich will jetzt allein sein«, sagte die alte Frau. »Ich will zu Fuß nach Hause gehen.« Sie fixierte Rowan. Nicht von dieser Welt, diese alterslose Intelligenz, die da aus dem verschlissenen, eingefallenen Gesicht blinzelte. »Bleib bei ihnen, solange du willst«, sagte sie, als sei es ein Befehl, »und dann komm zu mir. Ich werde warten. Zu Hause in der First Street.«
»Wann soll ich kommen?« fragte Rowan vorsichtig.
Ein kaltes, ironisches Lächeln kräuselte die Lippen der alten Frau, alterslos wie die Augen und die Stimme. »Wann du willst. Es wird früh genug sein. Ich habe dir ein paar Dinge zu sagen. Ich werde da sein.«
Als die Glastüren des Restaurants sich hinter ihnen geschlossen hatten, und als Rowan erkannt hatte, daß sie sich jetzt in der verbindlichen vertrauten Welt der uniformierten Kellner und weißen Tischtücher befanden, warf sie durch die Scheiben einen Blick zurück auf die weißgekalkte Friedhofsmauer und die kleinen Giebeldächer der Grabmäler, die dahinter zu sehen waren.
Die Toten sind so nah, daß sie uns hören können, dachte sie.
»Ah,
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