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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ich noch selten in meinem Leben so puren Schmerz gefühlt.
    Es durchfuhr mich wie ein Blitz: Sie wußte, daß sie Menschen getötet hatte. Sie wußte, daß sie auf eine furchtbare und tödliche Weise anders war. Sie wußte es, und dieses Wissen verschloß sie, als wäre sie in sich selbst lebendig begraben.
    Vielleicht war es gar keine Bosheit gewesen, was ich Augenblicke zuvor gespürt hatte. Aber was immer da stattgefunden hatte, jetzt war es zu Ende. Ich verlor sie. Sie wandte sich ab. Warum sie gekommen war, was sie vorgehabt hatte, würde ich nie erfahren.
    Sofort bot ich ihr meine Karte an. Ich legte sie ihr in die Hand. Sie gab sie mir zurück. Es war nicht unhöflich, wie sie es tat. Sie tat es einfach. Und plötzlich spürte ich wieder diese Bosheit, die von ihr auszugehen schien. Dann verschwand das Gefühl. Ihr Körper straffte sich, und sie drehte sich um und ging davon.
    Ich war so durcheinander, daß ich mich geraume Zeit überhaupt nicht rühren konnte. Ich blieb am Grab stehen und sah ihr nach, wie sie den Hang hinunterlief, und ich beobachtete, wie sie in einen grünen Jaguar stieg. Sie fuhr davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    War ich jetzt krank? Hatte ich irgendwo starke Schmerzen verspürt? Würde ich sterben? Natürlich nicht. Nichts dergleichen war geschehen. Aber ich wußte, was sie vermochte. Ich wußte es, und sie wußte es, und sie hatte es mir gesagt! Aber warum?
    Als ich im Campton Place Hotel in San Francisco ankam, war ich völlig verwirrt. Ich beschloß, einstweilen nichts weiter zu unternehmen.
    Ich traf mich mit Gander. »Beobachten Sie sie weiter«, sagte ich. »Gehen Sie so dicht heran, wie Sie es nur wagen. Achten Sie auf alles, was darauf hindeutet, daß sie ihre Macht benutzt. Erstatten Sie mir sofort Bericht.«
    »Dann werden Sie keinen Kontakt mit ihr aufnehmen?«
    »Im Moment nicht. Ich kann es nicht rechtfertigen. Erst, wenn noch etwas anderes passieren sollte – und da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie bringt noch jemanden um, absichtlich oder aus Versehen. Oder ihre Mutter in New Orleans stirbt, und sie beschließt, nach Hause zu fahren.«
    »Aaron, das ist Wahnsinn! Sie müssen Kontakt mit ihr aufnehmen! Sie dürfen nicht warten, bis sie nach New Orleans kommt! Hören Sie, alter Freund, ich behaupte nicht, zu wissen, was Sie über die Sache wissen. Aber nach allem, was Sie mir erzählt haben, ist sie das mächtigste Medium, das die Familie jemals hervorgebracht hat. Wer will sagen, ob sie nicht auch eine mächtige Hexe ist? Warum sollte dieses Gespenst Lasher sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen, wenn ihre Mutter schließlich das Zeitliche segnet?«
    Ich rief Scott Reynolds in London an. Scott ist nicht mehr unser Direktor, aber wenn es um die Mayfair-Hexen geht, ist er neben mir der kundigste Mensch im ganzen Orden.
    »Ich stimme mit Owen überein. Du mußt Kontakt aufnehmen. Du mußt. Was du auf dem Friedhof zu ihr gesagt hast, war genau das Richtige, und in gewisser Weise weißt du das auch. Darum hast du ihr gesagt, daß du ihre Familie kennst. Darum hast du ihr deine Karte angeboten. Sprich mit ihr. Du mußt es.«
    »Nein, ich bin anderer Meinung. Es ist nicht gerechtfertigt.«
    »Aaron, diese Frau ist eine gewissenhafte Ärztin, aber sie tötet Menschen! Glaubst du, sie tut so etwas willentlich? Andererseits…«
    »Was denn?«
    »Wenn sie es wirklich weiß, dann könnte ein solcher Kontakt natürlich gefährlich sein. Ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie ich die ganze Sache sehen würde, wenn ich dort wäre, an deiner Stelle.«
    Ich dachte über alles nach und beschloß, es nicht zu tun. Keinen weiteren Kontakt mehr aufzunehmen. Alles, was Owen und Scott gesagt hatten, stimmte. Aber es waren lauter Vermutungen. Wir wußten nicht, ob Rowan jemals absichtlich jemanden getötet hatte. Möglicherweise war sie gar nicht verantwortlich für die Todesfälle.
    Wir konnten nicht wissen, ob sie die Smaragdkette je in die Hände bekommen würde. Wir konnten nicht wissen, ob sie je nach New Orleans fahren würde. Wir konnten nicht wissen, ob zu Rowans Fähigkeiten auch das Talent gehörte, Geister zu sehen oder Lasher Gestalt annehmen zu lassen… aber natürlich lag der Schluß ziemlich nahe, daß all dies zutraf.
    Doch mehr war es eben nicht: Vermutungen. Vermutungen und nichts weiter.
    Und hier hatten wir eine schwer arbeitende Ärztin, die in ihrem großstädtischen OP tagtäglich Menschenleben rettete. Eine Frau, die unberührt war von der

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