Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
aber du mußt auch wissen«, sagte der hochgewachsene, weißhaarige Ryan, als könne er ihre Gedanken lesen, »wir in New Orleans lassen sie nie wirklich draußen.«

 
    27
     
     
    Aschgraues Zwielicht senkte sich über Oak Haven herab, und der Himmel war kaum noch zu sehen. Die Eichen standen schwarz und dicht, und die Schatten darunter wurden breiter und verschluckten den letzten Rest des warmen Sommerlichts, das noch auf dem dämmrigen Kiesweg lag.
    Michael saß auf der geräumigen vorderen Galerie, den Stuhl nach hinten gekippt, die Füße auf das Geländer gelegt, eine Zigarette zwischen den Lippen. Er hatte die Geschichte der Mayfairs zu Ende gelesen, und er fühlte sich wund und aufgedreht und von stiller Erregung erfüllt. Er wußte, daß er und Rowan das neue Kapitel waren, noch ungeschrieben, er und Rowan, die sie nun gemeinsam Personen der Erzählung sein würden.
    Eine ganze Weile klammerte er sich verzweifelt an den Genuß der Zigarette und beobachtete die Veränderungen im abenddunklen Himmel. Überall sammelte sich jetzt die Finsternis auf der weitläufigen Landschaft; die ferne Böschung verschwand, und er konnte die vorüberfahrenden Autos auf der Straße nicht mehr erkennen, sondern nur noch ihre gelb funkelnden Lichter. Jedes Geräusch, jeder Duft, jede Farbveränderung weckte in ihm eine Sintflut von süßen Erinnerungen, einige davon mit keinem bestimmten Ort verbunden oder einem bestimmten Menschen. Es war einfach die Gewißheit des Vertrauten: Hier war seine Heimat, hier sangen die Zikaden wie nirgendwo sonst. Aber es war auch eine Qual, diese Stille, dieses Warten, die vielen Gedanken, die sich in seinen Kopf drängten.
    Warum hatte Aaron noch nicht angerufen? Deirdre Mayfairs Beerdigung war doch sicher vorbei. Aaron mußte jetzt auf dem Rückweg sein, und vielleicht war Rowan bei ihm. Heute abend würden sie miteinander reden, über alles reden, hier in der Geborgenheit dieses gesunden Hauses.
    Aber da war noch eine Mappe zu lesen, noch ein Bündel Notizen, offensichtlich für ihn gedacht. Das nähme er sich besser gleich vor. Er drückte die Zigarette in dem Aschenbecher auf dem kleinen Campingtisch neben ihm aus, hob die Mappe in den gelben Lichtschein und klappte sie auf.
    Lose Papiere, ein paar handbeschrieben, andere getippt, wieder andere gedruckt. Er begann zu lesen.
     
    KOPIE EINES BRIEFTELEGRAMMS AN DAS
    TALAMASCA-MUTTERHAUS von Aaron Lightner
     
August 1989
    Parker Meridien Hotel
    New York
    Soeben auftragsgemäß hier in New York nach »zufälliger Begegnung« Gespräch mit Deirdre Mayfairs Arzt (von 1983) geführt. Mehrere Überraschungen.
    Übersende vollständiges handgeschriebenes Transkript des Interviews (Tonband verlustig; Arzt wollte es haben, habe es ausgehändigt) nach Fertigstellung im Flugzeug nach Kalifornien.
    Dieser Arzt will Lasher nicht nur in Deirdres Nähe gesehen haben, sondern auch in einiger Entfernung von dem Haus in der First Street, und zwar zweimal, und bei mindestens einer dieser Gelegenheiten – in einer Kneipe in der Magazine Street – habe Lasher sich deutlich materialisiert. (Man beachte die Hitze, die Luftbewegung – das alles beschreibt der Mann umfassend.)
    Auch gelangte der Arzt zu der Überzeugung, daß Lasher ihn daran zu hindern versucht habe, Deirdre ihre Beruhigungsmittel zu verabreichen. Und daß Lasher ihn, als er ihm später noch einmal erschienen sei, zur Rückkehr in die First Street habe bewegen wollen, damit er dort in irgendeiner Weise für Deirdre tätig werde.
    Zu dieser Interpretation gelangte der Arzt erst später. Zum Zeitpunkt der Erscheinung hatte er Angst. Er hörte keine Worte von Lasher und empfing keine klare telepathische Botschaft. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, der Geist versuche verzweifelt zu kommunizieren und könne es nur durch sein stummes Erscheinen.
    Es gibt keinen Hinweis darauf, daß der Arzt ein natürlich begabtes Medium ist. Ich kann aus allem nur schließen, daß Lasher in den letzten zwanzig Jahren beträchtliche Kraft gewonnen haben muß oder aber immer stärker war, als uns klar ist, und daß er sich tatsächlich zeigen kann, wann immer es ihm beliebt.
    Ich möchte eine solche Schlußfolgerung nicht übereilt ziehen. Aber dies ist offenbar mehr als wahrscheinlich. Lashers Unvermögen, klare Worte oder Andeutungen in den Geist des Arztes zu übermitteln, bestärkt mich nur in meiner Meinung, daß der Arzt selbst kein Medium war und ist.
    Wie wir wohl wissen, arbeitete Lasher bei Petyr van Abel

Weitere Kostenlose Bücher