Hexenstunde
mit der Energie und der Vorstellungskraft einer kraftvollen Psyche und deren tiefgründigen moralischen Schuldgefühlen und Konflikten. Bei Arthur Langtry hatte er es mit einem trainierten Medium zu tun, und die Erscheinungen und/oder Materialisationen in diesem Fall ereigneten sich ausschließlich auf dem Gelände des Hauses in der First Street und in der Nähe Stellas und Anthas.
Kann Lasher Gestalt annehmen, wann und wo er will? Oder hat er nur die Kraft, es in größerem Abstand von der Hexe zu tun als früher?
Das ist es, was wir herausfinden müssen.
Der Eure in der Talamasca
Aaron
P. S. Werde während des Aufenthaltes in San Francisco nicht versuchen, Rowan Mayfair zu sehen. Kontaktversuch Michael Curry hat diesmal Vorrang. Anruf von Gander vor der Abreise in New York heute läßt vermuten, daß Curry inzwischen als Halbinvalide in seinem Haus lebt. Bitte setzt mich dennoch in Kenntnis, sollte es im Falle Mayfair zu irgendwelchen neuen Entwicklungen kommen. Werde so lange wie nötig in San Francisco bleiben, um Kontakt mit Curry aufzunehmen und ihm Unterstützung anzubieten.
Michael blätterte rasch den Rest der Mappe durch. Lauter Artikel über ihn, die er schon gelesen hatte. Zwei große UPI-Hochglanzphotos von ihm. Eine maschinengeschriebene Biographie über ihn, hauptsächlich aus dem beiliegenden Material zusammengestellt.
Nun, die Akte über Michael Curry kannte er. Er legte alles beiseite, zündete sich wieder eine Zigarette an und nahm sich noch einmal den handschriftlichen Bericht über Aarons Begegnung mit dem Arzt im Hotel Parker Meridien vor.
Aarons feine Handschrift war sehr leicht zu lesen. Die Beschreibungen der Lasher-Erscheinungen waren säuberlich unterstrichen. Als er die Lektüre beendet hatte, pflichtete er den Anmerkungen Aarons bei.
Er stand von seinem Balkonstuhl auf, nahm die Mappe und ging hinein zum Schreibtisch. Sein ledergebundenes Notizbuch lag noch da, wo er es hingelegt hatte. Er setzte sich und starrte für einen Moment blind durch das Zimmer, ohne zu sehen, daß der Wind vom Fluß die Vorhänge wehen ließ oder daß die Nacht draußen rabenschwarz war. Er sah auch nicht das Essenstablett auf der Ottomane vor dem Ohrensessel, das noch genauso unberührt dort stand, wie es gebracht worden war; das Essen unter den Silberkuppeln war noch unberührt.
Er griff zum Stift und fing an zu schreiben.
»Ich war sechs Jahre alt, als ich Lasher zu Weihnachten in der Kirche hinter der Krippe stehen sah. Das muß 1947 gewesen sein. Deirdre dürfte genauso alt gewesen sein, und vielleicht war sie in der Kirche. Aber ich habe das sehr deutliche Gefühl, daß sie nicht da war.
Als Lasher sich mir in der Konzerthalle zeigte, war sie vielleicht auch da. Aber auch in diesem Fall – wir können es nicht wissen, um Aarons Lieblingssatz zu zitieren.
Gleichwohl haben die Erscheinungen per se nichts zu tun mit Deirdre. Ich habe Deirdre nie im Garten der First Street gesehen, und auch sonst nirgends, soweit ich weiß.
Zweifellos hat Aaron bereits aufgeschrieben, was ich ihm erzählt habe. Eines ist hier ganz entscheidend: Lasher ist auch mir erschienen, wenn er nicht in der Nähe der Hexe war. Er kann sich wahrscheinlich materialisieren, wo er will.
Die Frage ist immer noch: Warum? Warum ich? Und andere Zusammenhänge sind sogar noch quälender und nervenzerreibender.
Zum Beispiel – es ist vielleicht nicht besonders wichtig, aber ich kenne Rita Mae Lonigan. Ich war mit ihr und Marie Louise auf dem Riverboat an dem Abend, als sie sich mit ihrem Freund Terry O’Neill betrank. Dafür wurde sie nach St. Ro’s ins Internat geschickt, wo sie Deirdre Mayfair kennenlernte. Daran kann ich mich noch erinnern.
Bedeutet das nichts?
Und noch etwas. Was ist, wenn meine Vorfahren im Garden District gearbeitet haben? Ich weiß nicht, ob es der Fall ist oder nicht. Ich weiß, daß die Mutter meines Vaters als Waisenkind in St. Margaretes aufwuchs. Ich glaube, einen legitimen Vater hatte sie nicht. Wenn ihre Mutter nun als Dienstmädchen in dem Haus in der First Street… aber meine Gedanken spielen jetzt verrückt.
Man muß sich schließlich einmal ansehen, was diese Leute hinsichtlich ihrer Fortpflanzung getrieben haben. Bei Pferden und Hunden nennt man es Inzucht.
Wieder und wieder haben die ›besten‹ männlichen Exemplare sich mit den Hexen gekreuzt, so daß die genetische Mischung sich zugunsten bestimmter Eigenschaften entwickelte; zweifellos waren übersinnliche
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