Hexenstunde
Dunkelheit, die das Haus in der First Street umhüllte wie ein Leichentuch. Es stimmte, sie besaß eine furchtbare Macht, und sie würde sie vielleicht wieder einmal benutzen, absichtlich oder aus Versehen. Und wenn das geschähe, würde ich Kontakt aufnehmen.
»Ah, ich verstehe: Sie möchten erst noch jemanden im Leichenschauhaus liegen sehen«, bemerkte Owen.
»Ich glaube nicht, daß noch jemand dort landen wird«, erwiderte ich wütend. »Außerdem – wenn sie nicht weiß, daß sie es tut, wieso sollte sie uns dann glauben?«
»Vermutungen«, stellte Owen fest. »Wie alles.«
ZUSAMMENFASSUNG
Bis Januar 1989 läßt sich kein Zusammenhang zwischen Rowan und irgendeinem weiteren mysteriösen Todesfall feststellen. Im Gegenteil, sie hat in der Universitätsklinik unermüdlich weiter ihre »Wunder« gewirkt, und höchstwahrscheinlich wird sie noch vor Ende des Jahres ihre Festanstellung in der Neurochirurgie erhalten.
In New Orleans sitzt Deirdre Mayfair immer noch in ihrem Schaukelstuhl und starrt hinaus in den verwilderten Garten. Lasher – »ein netter junger Mann, der neben ihr stand« – wurde zuletzt vor zwei Wochen gesichtet.
Carlotta Mayfair ist fast neunzig Jahre alt. Ihr Haar ist schneeweiß, aber ihre Frisur hat sich in den letzten fünfzig Jahren nicht geändert. Ihre Haut ist wie Milch, und ihre Knöchel über den schlichten schwarzen Lederschuhen sind ständig geschwollen. Aber ihre Stimme klingt immer noch fest. Und sie geht immer noch jeden Vormittag für vier Stunden ins Büro. Manchmal ißt sie noch mit den jüngeren Anwälten zu Mittag, bevor sie wie immer mit dem Taxi nach Hause fährt.
Sonntags geht sie zu Fuß zur Messe in die Kapelle Unserer Mutter von der Immerwährenden Hilfe. Leute aus der Pfarrgemeinde haben sich erboten, sie zu fahren – zur Messe und überhaupt, wohin sie möchte. Aber sie sagt, sie gehe gern zu Fuß. Sie brauche die frische Luft. Das halte sie gesund.
Nach allem, was wir wissen, kennt Rowan Mayfair niemanden hier. Sie weiß über ihre Familiengeschichte heute genauso wenig wie als kleines Mädchen.
Letzte Nacht, nachdem ich obige Zusammenfassung in die endgültige Form gebracht hatte, habe ich von Stuart Townsend geträumt, dem ich nur einmal als Junge begegnet bin. In diesem Traum war er in meinem Hotelzimmer; er hat stundenlang mit mir gesprochen, aber als ich erwachte, konnte ich mich nur noch an seine letzten Worte erinnern: »Du verstehst, was ich damit sagen will? Es ist alles geplant!«
Ich verstehe es nicht, und das ist die Wahrheit. Ich weiß nicht, warum ein Mann wie er zu so entsetzlichen Mitteln greifen sollte. Ich weiß nicht, was wirklich mit Stuart passiert ist. Ich weiß nicht einmal, warum Stella sich so verzweifelt gewünscht hat, daß Arthur Langtry sie mitnähme. Ich weiß nicht, was Carlotta mit Antha angestellt hat, oder ob Cortland nun der Vater von Stella, Antha und Deirdres Baby war oder nicht. Ich weiß nichts!
Aber eins ist doch sicher. Eines Tages wird Rowan Mayfair, was immer sie Ellie versprochen haben mag, nach New Orleans zurück kehren, und wenn sie es tut, wird sie Antworten auf ihre Fragen verlangen.
Dutzende und Aberdutzende von Antworten.
Bis dahin begnüge ich mich damit, zu wachen und zu warten.
Aaron Lightner
Die Talamasca
LONDON
15. Januar 1989
26
Weiter ging es und immer weiter, exotisch und immer noch traumhaft in seiner Fremdartigkeit, ein Ritual aus einem anderen Land, wunderlich und von dunkler Schönheit, als jetzt die ganze Schar in die warme Luft hinausströmte und dann in eine Flotte von Limousinen stieg, die lautlos durch schmale, betriebsame, baumlose Sträßchen fuhr.
Vor einer hohen Backsteinkirche – Maria Himmelfahrt – hielten die langen, wuchtigen, glänzenden Autos, eines nach dem anderen, ohne daß jemand auf die verfallenen Schulgebäude geachtet hätte, auf die zerbrochenen Fensterscheiben und das Unkraut, das triumphierend aus jedem Riß und Spalt hervorwuchs.
Carlotta stand auf der Kirchentreppe, groß, steif, die dürre, fleckige Hand um die Krümmung ihres Gehstocks aus schimmerndem Holz geschlossen. An ihrer Seite stand ein attraktiver Mann mit weißen Haaren und blauen Augen, wahrscheinlich kaum älter als Michael; die alte Frau entließ ihn jetzt mit spröder Geste und winkte Rowan, ihr zu folgen.
Der ältere Mann trat zurück und gesellte sich zum jungen Pierce, nachdem er schnell Rowans Hand ergriffen hatte. Es hatte etwas Verstohlenes an sich, wie er
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