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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Hände umstrich. Als die alte Frau an ihr vorbeiging, trat sie beiseite.
    Die Kerze blieb zurück und kämpfte mit einem verirrten Luftzug. Dann ging sie aus. Rowan trat hinaus in die Dunkelheit. Wieder wehte der starke Duft im Wind heran, dessen Süße alles durchtränkte.
    »Der Nachtjasmin«, sagte die alte Frau.
    Überall am Geländer dieser Veranda wuchsen Ranken; ihre Fäden tanzten in der Brise, feine kleine Blätter schwirrten wie lauter Insektenflügel am Fliegengitter. Blüten glommen in der Dunkelheit, weiß und zart und schön.
    »Hier hat deine Mutter gesessen, Tag für Tag«, sagte die alte Frau. »Und dort, draußen auf den Steinplatten, ist ihre Mutter gestorben. Dort ist sie gestorben, als sie oben aus dem Fenster gefallen war, aus dem Zimmer, das Julien gehörte. Ich habe sie selbst durch das Fenster getrieben. Ich glaube, ich hätte sie eigenhändig hinausgestoßen, wenn sie nicht von allein gesprungen wäre. Mit eigener Hand hatte ich ihr die Augen ausgekratzt, wie ich es mit Julien getan hatte.«
    Sie schwieg und schaute durch das rostige Fliegengitter in die Nacht hinaus, womöglich zu den hohen, verschwommenen Umrissen der Bäume vor dem helleren Himmel. Das kalte Licht der Straßenlaterne strahlte weit und hell durch den vorderen Teil des Gartens. Es fiel auf das hohe, ungepflegte Gras. Es beschien sogar die hohe hölzerne Lehne eines weißen Schaukelstuhls.
    Freundlos und schrecklich war die Nacht für Rowan. Furchtbar und trostlos war das Haus, ein grausiger, alles verschluckender Ort. Oh, hier zu leben und zu sterben, sein Leben in diesen grauenvoll traurigen Zimmern verbracht zu haben und in diesem Dreck dort oben gestorben zu sein. Es war unaussprechlich. Das Grauen erhob sich wie etwas Schwarzes, Dickes in ihrem Innern und drohte ihr den Atem zu nehmen. Sie hatte keine Worte für das, was sie fühlte. Sie hatte keine Worte für ihren Abscheu gegen die alte Frau.
    »Ich habe Antha getötet«, sagte die alte Frau. Sie hatte Rowan den Rücken zugewandt, und ihre Worte klangen leise und undeutlich. »Ich habe sie so sicher getötet, wie wenn ich sie gestoßen hätte. Ich wollte, daß sie starb. Sie schaukelte Deirdre in der Wiege, und er war da, an ihrer Seite, und er schaute auf das Baby hinunter und brachte es zum Lachen! Und sie ließ es geschehen; sie sprach mit ihm mit ihrem winselnden, schwachen Stimmchen. Er sei ihr einziger Freund, sagte sie, jetzt, da ihr Mann tot sei, ihr einziger Freund auf der ganzen weiten Welt. Und dann sagte sie: ›Dies ist mein Haus. Ich kann dich hinauswerfen, wenn ich will. ‹ Und das sagte sie zu mir.
    Ich sagte: ›Ich kratze dir die Augen aus dem Kopf, wenn du ihn nicht aufgibst. Du kannst ihn nicht sehen, wenn du keine Augen mehr hast. Du wirst nicht mehr zulassen, daß das Baby ihn sieht.‹«
    Die alte Frau hielt inne. Angeekelt und elend wartete Rowan in der gedämpften Stille der nächtlichen Laute, all dessen, was sich im Dunkeln regte und sang.
    »Hast du schon einmal ein menschliches Auge gesehen, das aus seiner Höhle gerissen wurde? Das an blutigen Fäden auf der Wange einer Frau baumelt? Das habe ich mit ihr gemacht. Sie hat gekreischt und geschluchzt wie ein Kind, aber ich habe es getan. Ich habe es getan, und dann habe ich sie die Treppe hinaufgejagt, als sie vor mir fliehen wollte, und sie versuchte, ihr kostbares Auge mit den Händen festzuhalten. Und glaubst du, er hat mich aufgehalten?«
    »Ich hätte es getan«, sagte Rowan gepreßt und bitter. »Warum erzählst du mir das alles?«
    »Weil du es doch wissen wolltest! Wenn du wissen willst, was mit der einen passiert ist, mußt du auch wissen, was vor ihr mit der anderen passiert ist. Und vor allem mußt du wissen, daß ich es getan habe, um die Kette zu zerreißen.«
    Die Frau drehte sich um und starrte Rowan an, und das kalte weiße Licht schien auf ihre Brillengläser und verwandelte sie in blinde Spiegel. »Ich habe es für dich getan und für mich und für Gott, wenn es einen Gott gibt. Ich habe sie durch das Fenster getrieben. ›Wird sich ja zeigen, ob du ihn sehen kannst, wenn du blind bist‹, rief ich. ›Dann kannst du ihn kommen lassen!‹ Und deine Mutter schrie in ihrer Wiege dort oben in dem Zimmer. Ich hätte ihr das Leben nehmen sollen. Ich hätte sie an Ort und Stelle ersticken sollen, als Antha tot unten auf den Steinplatten lag. Ich wünschte bei Gott, ich hätte den Mut gehabt.«
    Wieder verstummte die alte Frau. »Ich konnte ein so kleines Ding nicht töten«,

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