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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Stuhl. Ihr Kopf fiel rückwärts gegen die hohe Lehne, und dann bewegte sie sich nicht mehr. Ihre Hand glitt von der Armlehne herunter und baumelte neben dem Stuhl.
    Kein einzelnes Geräusch durchdrang die Nacht, nur ein beständiges, undeutliches Summen, wie wenn Insekten sangen und Frösche sangen und ferne Autos und Lokomotiven, wo immer sie sein mochten, mit ihnen sangen. Irgendwo in der Nähe schien ein Zug vorbeizufahren; das Klicken der Räder tönte rhythmisch und schnell durch dieses Lied. Ein Pfiff hallte dumpf aus der Ferne, wie ein gutturales Schluchzen in der Dunkelheit.
    Rowan stand regungslos da; ihre Hände hingen zu beiden Seiten herab, schlaff und nutzlos, und sie starrte benommen durch das rostige Netz des Fliegendrahtes auf die sachten Bewegungen der Bäume vor dem Himmel. Der tiefe Gesang der Frösche löste sich langsam von den anderen Nachtgesängen und erstarb dann. Ein Auto fuhr auf der leeren Straße vor dem Vorderzaun vorbei; seine Scheinwerfer bohrten ihre Strahlen durch das dichte, nasse Laub.
    Rowan spürte das Licht auf ihrer Haut. Sie sah, wie es blitzartig über den Gehstock strich, der auf der Veranda lag, über Carlottas hohen schwarzen Schuh, der schmerzlich einwärts gekrümmt war, als sei der Knöchel ausgerenkt.
    Ob jemand durch das dichte Gebüsch die tote Frau auf dem Stuhl sehen konnte? Und die große blonde Frau, die hinter ihr stand?
    Rowan schauderte es am ganzen Leibe. Sie bog den Rücken nach hinten, und ihre linke Hand hob sich, packte eine Haarsträhne und zerrte daran, bis der Schmerz in der Kopfhaut stechend wurde, so stechend, daß sie es fast nicht mehr ertragen konnte.
    Die Wut war verraucht. Noch der leiseste, bitterste Zornesblitz war vergangen, und sie stand allein und frierend in der Dunkelheit und klammerte sich an den Schmerz; fest hielt sie ihr Haar mit zitternden Fingern, so kalt, als gebe es diese warme Nacht nicht, so allein, als wäre die Dunkelheit die Dunkelheit des Abgrundes, aus dem alle Verheißung des Lichtes verschwunden ist, und alle Verheißung der Hoffnung und des Glücks dazu.
    Langsam wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund, unordentlich wie ein Kind, und sie starrte hinunter auf die schlaffe Hand der toten Frau, und ihre Zähne klapperten, als die Kälte sich in sie hineinfraß und sie im Innersten frieren machte. Dann beugte sie das Knie, nahm die Hand und fühlte nach dem Puls, obwohl sie wußte, daß er nicht vorhanden war, und dann legte sie die Hand in den Schoß und schaute auf das Blut, das aus dem Ohr der Frau rieselte, am Hals herunter und in den weißen Kragen.
    »Ich wollte es nicht…«, wisperte sie, und kaum formten ihre Lippen diese Worte.
    Hinter ihr gähnte das dunkle Haus, wartete. Sie hätte es nicht ertragen, sich umzudrehen. Irgendein fernes, undeutbares Geräusch ließ sie erschrecken. Es erfüllte sie mit Angst; der schlimmsten und einzigen wirklichen Angst, die sie in ihrem ganzen Leben je verspürt hatte, und wenn sie an die dunklen Zimmer dachte, konnte sie sich nicht umdrehen. Sie konnte nicht zurück in das Haus gehen. Und die geschlossene Veranda umgab sie wie eine Falle.
    Langsam erhob sie sich und schaute hinaus über das hohe Gras, über ein Gestrüpp von Ranken, die sich an das Gitter krallten mit zitternden kleinen Blättern. Sie schaute hinauf zu den Wolken, die über den Bäumen dahinzogen, und sie hörte ein furchtbares kleines Geräusch, das von ihren eigenen Lippen kam, eine Art furchtbares, verzweifeltes Stöhnen.
    »Ich wollte es nicht…«, sagte sie noch einmal.
    An dieser Stelle betet man, dachte sie in lautlosem Jammer. An dieser Stelle betet man zu nichts und niemandem, daß es das Grauen dessen, was du getan hast, wegnehme, daß es alles wieder in Ordnung bringe, daß es die Dinge so füge, als wärest du nie hier gewesen.
    Weit weg, in einer anderen Welt, existierten andere Menschen. Michael und der Engländer und Rita Mae Lonigan und die Mayfairs an ihrem Tisch im Restaurant. Auch Eugenia, verloren irgendwo in den Tiefen des Hauses, wo sie schlief, vielleicht träumte. All die anderen.
    Und sie stand hier allein. Sie, die sie diese gemeine, grausame alte Frau getötet hatte, so grausam getötet hatte, wie diese nur je getötet hatte – Gott verdamme sie dafür. Gott verdamme sie in die Hölle für all das, was sie gesagt und getan hat. Gott verdamme sie. Aber ich wollte es nicht tun, das schwöre ich…
    Wieder wischte sie sich über den Mund. Sie verschränkte die Arme vor den

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