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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Hose in dem zusammengerollten Teppich ragte.
    Wie gelähmt starrte sie den Knochen an. Den zusammengerollten Teppich. Dann ging sie an der Rolle entlang und sah am anderen Ende, was sie vorher nicht hatte sehen können: einen dunklen Schimmer von braunem Haar. Jemand war in den Teppich gewickelt. Jemand, der tot war, schon lange tot, und schau nur, der Flecken auf dem Boden, unten am Ende, wo die Flüssigkeiten vor langer Zeit herausgeronnen und eingetrocknet sind, und sieh doch, auch die vertrockneten kleinen Insekten, die vor langer Zeit in der klebrigen Flüssigkeit endgültig hängengeblieben sind.
    Rowan, versprich mir, daß du nie zurück gehen wirst. Versprich es mir.
    Von irgendwo unten hörte sie die Stimme der alten Frau, so leise, daß es kaum mehr als ein Gedanke war. »Komm herunter, Rowan Mayfair…«
    Rowan Mayfair, Rowan Mayfair, Rowan Mayfair…
    Sie war nicht willens, sich zu beeilen. Sie ging hinaus und warf noch einmal einen Blick auf den Toten in dem Teppich, auf den schlanken Stab aus weißem Knochen, der aus der Rolle ragte. Dann schloß sie die Tür und ging schwerfällig die Treppe hinunter.
    Die alte Frau stand an der offenen Aufzugtür und schaute ihr stumm entgegen. Der häßliche Goldschimmer der Glühbirne in der Kabine beleuchtete sie ganz.
    »Du weißt, was ich gefunden habe«, sagte Rowan. Haltsuchend griff sie nach dem Geländerpfosten. Die kleine Kerzenflamme tanzte für einen Augenblick und warf fahle, durchscheinende Schatten an die Decke.
    »Du hast den toten Mann im Teppich gefunden.«
    »Was, in Gottes Namen, ist eigentlich vorgegangen in diesem Hause?« fragte Rowan atemlos. »Seid ihr denn alle verrückt?«
    Wie kalt und beherrscht die alte Frau aussah, wie absolut unbeteiligt. Sie deutete auf den offenen Aufzug. »Komm mit«, sagte sie. »Es gibt nichts mehr zu sehen und nur wenig mehr zu sagen…«
    »Oh, aber es gibt noch eine Menge zu sagen«, erwiderte Rowan. »Sag mir – hast du meiner Mutter das alles auch erzählt? Hast du ihr diese gräßlichen Gläser und Puppen gezeigt?«
    »Ich habe sie nicht in den Wahnsinn getrieben, wenn du das meinst.«
    »Ich glaube, jeder, der in diesem Haus aufwächst, könnte verrückt werden.«
    »Das denke ich auch. Deswegen habe ich dich damals fortgeschickt. Jetzt komm.«
    »Sag mir, was mit meiner Mutter passiert ist.«
    Sie trat hinter der Frau in die kleine, verstaubte Kabine und schloß wütend die Tür und das Gitter. Als sie hinunterfuhren, drehte sie sich um und starrte das Profil der Frau an. Alt, alt, ja das war sie. Ihre Haut war überall so gelb wie Pergament, ihr Hals so dünn und zerbrechlich, und die Adern wölbten sich unter der verletzlichen Haut. Ja, so zerbrechlich.
    Mit einem Ruck blieb der Aufzug stehen. Die Frau zog das Gitter auf und öffnete die Tür, und dann trat sie hinaus in den Flur.
    »Erzähl mir, was passiert ist«, wiederholte Rowan leise.
    Sie durchquerten den langgestreckten vorderen Salon. Die alte Frau ging voran; leicht nach links geneigt, folgte sie ihrem Stock, und Rowan kam ihr geduldig nach.
    Das fahle Licht der Kerze kroch langsam durch den ganzen Raum und schien dünn bis zur Decke hinauf. Noch im Zustand des Verfalls war es ein schöner Raum mit seinen Marmorkaminen und den hohen Spiegeln über den Simsen, die im trostlosen Schatten glänzten. Alle Fenster reichten bis auf den Boden. Spiegel an beiden Enden schauten quer durch das Zimmer ineinander. Stumpf sah Rowan das Spiegelbild der Kronleuchter bis ins Unendliche wiederholt. Auch ihre eigene kleine Gestalt war zu sehen, immer wieder, bis die Finsternis sie schließlich verschlang.
    »Ja«, sagte die alte Frau. »Es ist eine interessante Illusion. Wir haben uns alle… von Zeit zu Zeit… in diesen Spiegeln gesehen. Und jetzt siehst du dich darin, vom selben Rahmen umfangen.« Sie trat an das nächste der beiden bis zum Boden reichenden Fenster. »Schiebe es für mich hoch«, sagte sie. »Man kann es schieben. Du bist stark genug.« Sie nahm Rowan die Kerze ab und stellte sie auf einen kleinen Lampentisch vor dem Kamin.
    Rowan langte hoch und ließ den einfachen Riegel aufschnappen, und dann schob sie das schwere, aus neun Scheiben bestehende Fenster nach oben; mühelos drückte sie es immer weiter, über ihren Kopf hinaus.
    Hier war die mit Fliegengitter versehene Veranda. Draußen war es Nacht, die Luft so frisch wie warm, voll vom Atem des Regens. Dankbarkeit durchströmte sie, und stumm blieb sie stehen, als die Luft ihr Gesicht und

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