Hexenstunde
sagte sie dann müde. »Ich brachte es nicht über mich, das Kissen zu nehmen und es Deirdre aufs Gesicht zu drücken. Ich dachte an all die Geschichten aus alter Zeit, von den Hexen, die kleine Kinder opferten und die das Babyfett am Hexensabbat in ihre Kessel rührten. Wir sind Hexen, wir Mayfairs. Und sollte ich dieses winzige Ding nun opfern, wie sie es getan hatten? Da stand ich, bereit, einem Baby, einem weinenden Baby, das Leben zu nehmen, und ich brachte es nicht über mich, zu tun, was sie getan hatten.«
Und wieder Schweigen.
»Und natürlich wußte er, daß ich es nicht konnte! Er hätte das Haus entzwei gerissen, um mich zu hindern, wenn ich es wirklich versucht hätte.«
Rowan wartete, bis sie nicht länger warten konnte, bis der Haß und die Wut in ihr sie lautlos zu erwürgen drohten. Mit gepreßter Stimme sagte sie: »Und was hast du ihr später angetan – meiner Mutter -, um die Kette zu zerreißen, wie du sagst?«
Schweigen.
»Sag’s mir!«
Die alte Frau seufzte. Sie wandte leicht den Kopf und starrte hinaus durch das rostige Fliegengitter.
»Seit sie ein kleines Kind war und da draußen im Garten spielte, flehte ich sie an, sich gegen ihn zu wehren. Ich sagte ihr, sie sollte ihn nicht anschauen. Ich habe ihr beigebracht, ihn abzuwehren! Und ich hatte meinen Kampf gewonnen, hatte ihre Anfälle von Melancholie und Raserei und Tränen, ihre ekelhaften Geständnisse, sie habe die Schlacht verloren und ihn in ihr Bett gelassen – ich hatte das alles überwunden, als Cortland sie vergewaltigte! Und dann tat ich, was ich tun mußte, um dafür zu sorgen, daß sie dich aufgab und dir niemals nachspürte.
Ich tat, was ich tun mußte, um dafür zu sorgen, daß sie niemals die Kraft fand, fortzulaufen, um dich zu suchen, Anspruch auf dich zu erheben und dich zurück zu holen, in ihren Wahnsinn, in ihre Schule und ihre Hysterie. Wenn sie ihr in der einen Klinik keine Elektroschocks mehr geben wollten, brachte ich sie in eine andere. Und wenn sie in einem Krankenhaus die Medikamente absetzen wollten, kam sie in ein anderes. Und ich erzählte ihnen, was ich erzählen mußte, damit sie sie ans Bett fesselten und ihr die Drogen spritzten und Elektroschockbehandlungen verabreichten. Ich sagte zu ihr, was ich sagen mußte, damit sie schrie – und dann taten sie dort, was ich wollte.«
»Sprich nicht weiter.«
»Warum nicht? Du wolltest es doch wissen, oder? Und jawohl, wenn sie sich auf ihren Laken wälzte wie eine läufige Hündin, dann befahl ich ihnen, sie sollten ihr die Spritzen geben, sollten ihr…«
»Aufhören!«
»… sollten ihr zwei oder drei Stück am Tag geben. Von mir aus können Sie sie umbringen damit, aber geben Sie ihr die Spritzen. Ich will nicht, daß sie daliegt als sein Spielzeug und sich windet im Dunkeln. Ich will nicht…«
»Aufhören. Aufhören.«
»Warum? Bis zu dem Tag, an dem sie starb, gehörte sie ihm. Ihr letztes, ihr einziges Wort war sein Name. Wozu war das alles gut, wenn nicht für dich – für dich, Rowan!«
»Hör auf!« zischte Rowan, und ihre Hände erhoben sich hilflos, die Finger gespreizt. »Hör auf! Ich könnte dich töten für das, was du mir da erzählst! Wie kannst du es wagen, von Gott zu sprechen und vom Leben, wenn du einem jungen Mädchen so etwas angetan hast, einem jungen Mädchen, das du großgezogen hast in diesem verkommenen Haus? Du hast ihr das angetan, du hast es ihr angetan, als sie hilflos und krank war, und du… Gott helfe dir! Du bist hier die Hexe, du krankes, grausames altes Weib, daß du ihr so etwas antun konntest, Gott helfe dir, Gott helfe dir, Gott verdamme dich!«
Dumpfer Schock zog über das Gesicht der alten Frau. Im matten Licht sah es eine Sekunde lang so aus, als verliere es allen Ausdruck; ihre runden, leeren, gläsernen Augen glänzten wie zwei Knöpfe, und ihr Mund war schlaff und stumm.
Rowan stöhnte, und sie preßte die Lippen zusammen, um ihren Worten ein Ende zu machen, ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrer Pein. »Zur Hölle mit dir für das, was du getan hast!« schrie sie; nur halb verschluckte sie die Worte, und ihr Körper bog sich in einer Wut, die sie nicht verschlucken konnte.
Die alte Frau runzelte die Stirn. Sie streckte die Hände aus, und ihr Stock fiel zu Boden. Sie tat einen einzigen schlurfenden Schritt nach vorn. Und dann wich die Kraft aus ihrer rechten Hand, und sie fiel vorwärts auf den Knauf des Schaukelstuhls vor ihr. Ihr schmächtiger Körper drehte sich langsam, und sie sank in den
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