Hexenstunde
und langsam durch; sie achtete nicht auf den Schweiß, der klebrig ihr Gesicht bedeckte, und auf die Wärme der Lampe. Elend war es, was sie fühlte, Elend und vergeudete Zeit und lange, einsame Jahre, als sie die alte Frau betrachtete. Leere Jahre, Jahre mühseliger Routine, Bitterkeit und einen wilden Glauben, einen Glauben, der töten konnte…
»Ja, töten«, seufzte die Frau. »Das habe ich getan. Um die Lebenden zu schützen vor ihm, der nie lebte, und von ihnen Besitz ergreifen würde, wenn er könnte.«
»Hast du je mit ihm gesprochen?« fragte Rowan. »Du sagst, er kam zu dir, als du ein kleines Mädchen warst, und er sprach Worte in dein Ohr, die niemand hören konnte. Hast du ihn je gefragt, wer er war und was er wirklich wollte?«
»Glaubst du, er hätte mir die Wahrheit gesagt? Er sagt nicht die Wahrheit – denke an meine Worte. Du nährst ihn, wenn du ihn befragst. Du gibst ihm Öl, als wäre er die Flamme da in der Lampe.«
Die alte Frau kam plötzlich näher.
»Zerreiße die Kette, Kind! Du bist die stärkste von allen! Zerreiße die Kette, und er fährt wieder zur Hölle, denn an keinem anderen Ort auf der ganzen Welt findet er eine Kraft wie deine! Begreifst du es nicht? Er hat sie geschaffen. Hat die Schwester mit dem Bruder gepaart, den Onkel mit der Nichte, die Mutter mit dem Sohn, ja, auch das, wenn es sein mußte, um eine immer stärkere Hexe zu schaffen; nur hin und wieder mußte er Rückschläge hinnehmen, doch dann gewann er, was er in einer Generation verloren hatte, indem er in der nächsten noch größere Kraft erlangte.«
»Hexe? Du sprichst es aus, das Wort – Hexe?« fragte Rowan.
»Sie waren doch Hexen, alle, siehst du das denn nicht?«
Forschend sah die alte Frau ihr ins Gesicht. »Deine Mutter, ihre Mutter, und deren Mutter vor ihr, und Julien auch, dieser böse, verachtungswürdige Julien, der Vater Cortlands, der dein Vater war. Ich war ja selbst dazu ausersehen, bis ich rebellierte.«
Rowan ballte die Linke zur Faust, bis die Fingernägel sich in ihren Handballen bohrten, und sie starrte der alten Frau in die Augen, von ihr abgestoßen und doch unfähig, sich von ihr zu lösen.
»Inzest, meine Liebe, war noch die geringste ihrer Sünden, aber das größte ihrer Komplotte: Inzest zur Stärkung der Linie, zur Verdoppelung der Kraft, zur Reinigung des Blutes, um so in jeder Generation eine verschlagene, schreckliche Hexe zu gebären; und das alles reicht so tief in die Vergangenheit, daß es im Nebel der europäischen Geschichte verschwindet. Laß dir von dem Engländer alles darüber erzählen, von dem Engländer, der mit dir in der Kirche war und der dort deinen Arm hielt. Laß dir von ihm die Namen der Frauen nennen, deren Puppen dort im Koffer liegen. Er weiß es. Er wird dir seine eigene Sorte Schwarzer Kunst verkaufen, seine Genealogie.« Sie schob sich an Rowan vorbei; der Saum ihres Kleides streifte Rowans Knöchel, und ihr Stock tappte leise auf den Boden wie zuvor, als sie auf den Treppenabsatz hinausging und Rowan winkte, ihr zu folgen.
Durch die einzige andere Tür im zweiten Stock traten sie jetzt, und ein giftiger, überwältigender Geruch flutete über sie hinweg. Rowan wich zurück; sie konnte kaum atmen.
Sie hob die Lampe in die Höhe und sah, daß dies eine enge Speicherkammer war. Sie stand voll mit Gläsern und Flaschen auf behelfsmäßigen Regalen, und die Gläser und Flaschen waren gefüllt mit schwärzlicher, trüber Flüssigkeit. Präparate schwammen darin. Faulige, stinkige Dinge. Stechender Geruch von Alkohol und anderen Chemikalien, vor allem von verwesendem Fleisch. Eine unerträgliche Vorstellung, daß die Glasbehälter aufgebrochen werden und den grauenvollen Geruch ihres gräßlichen Inhalts verströmen könnten.
»Das hat Marguerite gehört«, sagte die alte Frau. »Marguerite war Juliens und Katherines Mutter; Katherine war meine Großmutter. Ich erwarte nicht, daß du dich an diese Namen erinnerst. Aber merke dir, was ich sage. Marguerite hat diese Gläser mit grausigen Dingen gefüllt. Das wirst du sehen, wenn du sie ausgießt. Wohlgemerkt, du mußt es selbst tun, wenn du keine Schwierigkeiten bekommen willst. Grausige Dinge in diesen Gläsern – und sie eine Heilerin!« Fast spuckte sie die Worte aus, so verächtlich klang es. »Mit der gleichen machtvollen Begabung, die du jetzt hast: den Kranken die Hände aufzulegen und die Zellen zusammen zu fügen, um die Wunde zu schließen, den Krebs zu ersticken. Und das hier hat sie mit
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