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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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selbst dabei zu. Sie sah sich, Rowan Mayfair, herausgerissen aus ihrer Vergangenheit, die von all dem hier so weit entfernt gewesen war, daß es ihr jetzt ganz fremd vorkam, sah sich, wie sie nun einem verirrten Wanderer gleich in diesem dunklen, wunderlich vertrauten Haus stand.
    Und es war ihr doch vertraut, oder nicht? Diese hohen, sich nach oben verjüngenden Türen waren vertraut. Es war, als seien ihre Blicke tausendmal über diese Wandgemälde gestreift. Ellie war hier umhergegangen. Ihre Mutter hatte hier gelebt und war hier gestorben. Und wie unwirklich und unwiederbringlich erschien ihr jetzt das Haus aus Glas und Rotholz im fernen Kalifornien. Warum hatte sie so lange gewartet, ehe sie hergekommen war?
    Der Smaragd lag schwer auf der weichen Seide ihrer Bluse. Ihre Finger schienen außerstande zu sein, ihm zu widerstehen; sie umschwebten ihn wie einen Magnet.
    »Ist es das, was du willst?« flüsterte sie.
    Hinter ihr, in der Diele, antwortete ein unüberhörbares Geräusch. Das ganze Haus fühlte es, und es hallte wider davon, wie ein großes Piano von der zartesten Berührung einer einzelnen Saite widerhallt. Dann hörte sie es noch einmal. Leise, aber deutlich. Da war jemand.
    Ihr Herz pochte beinahe schmerzhaft. Wie gestrandet stand sie da, mit gesenktem Kopf, und zwischen Wachen und Träumen drehte sie sich um und hob den Blick. Nur ein paar Schritte weiter erkannte sie die schattenhafte, undeutliche Gestalt eines großen Mannes.
    All die winzigen Laute der Nacht schienen zu ersterben und sie im Nichts zurückzulassen, als sie sich bemühte, dieses Ding von den düsteren Schatten, mit denen es verwoben war, zu unterscheiden. Täuschte sie sich, oder sah sie ein schemenhaftes Gesicht? Es war, als sei da ein Paar dunkler Augen, die sie beobachteten, und als könne sie mit Mühe die Konturen eines Kopfes erkennen. Vielleicht sah sie da auch noch die weiße Kurve eines steifen Hemdkragens.
    »Spiele keine Spielchen mit mir«, flüsterte sie. Wieder hallte das ganze Haus mit seinem undeutlichen Knarren und Seufzen von ihrem Flüstern wider. Und dann erhellte sich die Gestalt in wundersamer Weise, festigte sich wie durch Zauberei und begann doch, während Rowan noch nach Luft schnappte, wieder zu verblassen.
    »Nein, geh nicht!« bat sie und bezweifelte plötzlich, daß sie überhaupt irgend etwas gesehen hatte.
    Und als sie verzweifelt suchend in das Gewirr von Licht und Schatten spähte, ragte plötzlich eine dunklere Gestalt in das trübe, matte Licht von der fernen Haustür. Sie kam näher durch den wirbelnden Staub, und ihre Schritte klangen schwer und fest. Eine Verwechslung war nicht möglich; sie sah die massigen Schultern, das schwarze, lockige Haar.
    »Rowan? Bist du das, Rowan?«
    Fest, vertraut, menschlich.
    »Oh, Michael«, rief sie, aber ihre Stimme klang leise und rauh. Sie sank ihm in die ausgebreiteten Arme. »Michael, Gott sei Dank!«

 
    29
     
     
    So, dachte sie bei sich, als sie schweigend, vorn über gebeugt, allein am Eßtisch saß, das mutmaßliche Opfer des Grauens in diesem dunklen Haus – jetzt werde ich also zu einer dieser Frauen, die einfach einem Mann in die Arme sinken und ihm alles weitere überlassen.
    Aber es war wunderschön, Michael in Aktion zu sehen. Er telefonierte, rief Ryan Mayfair an, die Polizei, Lonigan und Söhne. Er sprach die Sprache der Beamten, die die Treppe heraufkamen. Wenn jemand die schwarzen Handschuhe bemerkte, die er trug, so erwähnte er es nicht – vielleicht, weil Michael zu schnell sprach, alles erklärte und die Sache in Bewegung hielt, um die unausweichlichen Schlußfolgerungen zu beschleunigen.
    »Sie ist ja eben erst hergekommen; sie hat also nicht die leiseste Ahnung, wer, zum Teufel, der Kerl da oben auf dem Speicher ist. Die alte Frau hat es ihr nicht gesagt. Und jetzt hat sie einen Schock. Die Frau ist eben gestorben da draußen. Der Leichnam auf dem Dachboden liegt offensichtlich schon lange dort, und ich möchte Sie nur bitten, in dem Zimmer alles andere so zu lassen, wie es ist; wenn Sie also bitte nur den Toten wegbringen wollen… und sie will genauso wie Sie wissen, wer dieser Mann war.
    Schau, da kommt Ryan Mayfair. Ryan, Rowan ist hier drin. Sie ist in einem scheußlichen Zustand. Bevor Carlotta starb, hat sie ihr oben einen Toten gezeigt.«
    »Einen Toten? Ist das Ihr Ernst?«
    »Man muß ihn fortbringen. Könnten Sie oder Pierce mit hinaufgehen und dafür sorgen, daß sie die alten Aufzeichnungen und all das nicht anrühren?

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