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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hinterlasse mir eine Nachricht. Die Hexe von Endor.
     
    »Die Hexe von Endor.« Wer war die Hexe von Endor? Ach ja, die Frau, zu der König Saul gegangen war, damit sie seinen Vorfahren Samuel aus dem Reich der Toten für ihn heraufbeschwor. Nicht überinterpretieren – es bedeutet nur, daß sie die Lektüre der Akte überlebt hat. Das Wunderkind. Die Gehirnchirurgin. Die Akte gelesen! Dazu hatte er zwei Tage gebraucht. Die Akte gelesen!
    Er rief den Zimmerservice an. »Schicken Sie mir ein großes Frühstück. Eier Benedict, Grits, jawohl, eine große Schüssel Grits, eine Extrascheibe Speck, Toast und eine ganze Kanne Kaffee. Und sagen Sie dem Kellner, er soll seinen Schlüssel benutzen; ich werde mich derweil anziehen. Setzen Sie zwanzig Prozent Trinkgeld auf die Rechnung. Und schicken Sie mir auch Wasser, eiskaltes Wasser.«
    Er las ihre Nachricht noch einmal. Aaron und Rowan waren jetzt zusammen. Das erfüllte ihn mit banger Sorge. Jetzt begriff er erst, was für Befürchtungen Aaron gehegt hatte, als er selbst angefangen hatte, das Material zu lesen. Und er hatte auch nicht auf Aaron hören wollen. Er hatte lesen wollen. Na, da konnte er Rowan keinen Vorwurf machen.
    Aber sein Unbehagen wurde er trotzdem nicht los. Sie verstand Aaron nicht. Und er verstand sie sicher auch nicht. Und sie hielt ihn für naiv. Er schüttelte den Kopf. Und dann war da noch Lasher. Was dachte Lasher?
    Am Abend zuvor, ehe er in Oak Haven weggefahren war, hatte Aaron gesagt: »Es war der Mann. Ich habe ihn im Scheinwerferlicht gesehen. Ich wußte, es war ein Trick, aber ich konnte es nicht darauf ankommen lassen.«
    »Und was werden Sie jetzt machen?« hatte Michael gefragt.
    »Aufpassen«, hatte Aaron geantwortet. »Was kann ich sonst tun?«
    Und jetzt wollte sie sich um drei mit ihm im Haus in der First Street treffen, weil sie vorher ein Weilchen dort allein sein wollte. Mit Lasher? Wie sollte er bis drei Uhr seine Gefühle im Zaum halten?
    Na, du bist doch hier in New Orleans, oder, alter Freund? Du warst noch nicht in der alten Gegend. Vielleicht ist es Zeit, daß du mal hingehst.
    Er verließ das Hotel um Viertel vor zwölf; die warme Luft umfing ihn überraschend und köstlich, als er ins Freie trat.
    Nach dreißig Jahren in San Francisco war er instinktiv auf Kälte und Wind gefaßt gewesen.
    Und als er jetzt das Zentrum hinter sich ließ, merkte er, daß er in dergleichen unterbewußten Weise auch auf einen steilen Auf- oder Abstieg gefaßt gewesen war. Die ebenen, breiten Gehwege fühlten sich wunderbar an. Es war, als sei hier alles leichter – jeder Atemzug in der warmen Brise, jeder Schritt, das Überqueren der Straße, der sanfte Blick auf die ausgewachsenen, schwarzborkigen Eichen, die die Stadtlandschaft veränderten, als er die Jackson Avenue überquert hatte. Kein Wind, der ihm ins Gesicht schnitt, nicht der gleißende Himmel der Pazifikküste, der ihn blendete.
    Er beschloß, durch die Philip Street zum Irish Channel zu spazieren; er ging langsam, wie er es früher getan hätte, denn er wußte, daß die Hitze schlimmer, daß seine Kleider schwerer werden würden, daß selbst seine Schuhe nach einer Weile innen feucht werden würden, und daß er früher oder später seine khakifarbene Safarijacke ausziehen und über die Schulter werfen würde.
    Und bald hatte er alles Düstere hinter sich gelassen; diese Landschaft barg zu viele glückliche Erinnerungen. Sie lenkte ihn von der Sorge um Rowan ab. Sie lenkte ihn von der Sorge wegen des Mannes ab. Er glitt einfach zurück in die Vergangenheit, ließ sich an alten Mauern vorübertreiben, die von Efeu bedeckt waren und von junger Myrte, die dünn und krautig wucherte, voll von dicken, schlaffen Blüten, die er beiseite schlagen mußte, während er ging. Und wieder erkannte er – genauso machtvoll wie schon einmal -, daß die Sehnsucht an der Erinnerung nichts geschönt hatte.
    Endlich überquerte er die Magazine Street, wobei er aufmerksam auf den rasenden Verkehr achtete, und ging weiter in den Irish Channel. Die Häuser schienen zu schrumpfen. Anstelle der Säulen traten Pfosten, Eichen gab es hier nicht mehr, und selbst die riesigen Zürgelbäume blieben an der Ecke Constance Street zurück. Aber das war okay, das war ganz in Ordnung so. Das war sein Stadtteil. Oder war es zumindest gewesen.
    Die Annunciation Street brach ihm das Herz. Die brachliegenden Grundstücke waren von Müll und alten Autoreifen übersät. Das Doppelhäuschen, in dem er gewohnt hatte, war

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