Hexenstunde
den Altar – starrte die ganze gewaltige, prächtig geschmückte Kirche an.
Er wünschte, er könnte an etwas glauben. Und dann erkannte er, daß er es tat. Er glaubte immer noch an seine Visionen und daran, daß sie gut gewesen waren. Er glaubte an sie und an ihr Gutsein ebenso fest, wie andere an Gott oder an die Heiligen glaubten, an die gottgegebene Richtigkeit eines bestimmten Weges. So fest, wie sie an eine Berufung glaubten.
Und es erschien ihm ebenso töricht wie jeder andere Glaube. »Aber ich habe gesehen, aber ich habe gefühlt, aber ich erinnere mich, aber ich weiß…« Soviel Gestammel. Schließlich konnte er sich ja immer noch nicht erinnern. Nichts in der gesamten Mayfair-Geschichte hatte ihn zu diesen kostbaren Augenblicken zurückgeführt, nur das Bild Deborahs – und so sicher er auch war, daß sie es gewesen war, die ihm erschienen war, verfügte er doch nicht über wirkliche Details, konnte er sich nicht wirklich erinnern an Worte oder Augenblicke.
Impulsiv, und ohne den Blick vom Altar zu wenden, schlug er ein Kreuzzeichen.
Wie viele Jahre war es her, daß er das jeden Tag getan hatte, dreimal täglich? Neugierig, nachdenklich, tat er es noch einmal. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Und sein Blick war immer noch auf die Jungfrau gerichtet.
Eine Zeitlang blieb er noch stumm stehen, die behandschuhten Hände in den Taschen, und dann ging er langsam den Gang hinunter, bis er vor dem Altargitter ankam; er stieg die Marmorstufen hinauf, durchquerte den Chor und suchte sich den Weg hinüber zum Pfarrhaus und ins Freie.
Die Sonne hämmerte auf die Constanze Street herunter, wie sie es immer getan hatte. Gnadenlos und häßlich. Hier gab es keine Bäume. Und der Garten des Pfarrhauses hinter der hohen Ziegelmauer und der Rasen neben der Kirche waren verbrannt und erschöpft und verstaubt.
Der kleine Glatzkopf mit dem verschwitzten roten Gesicht saß auf der Treppe des Pfarrbüros; er hatte die Arme auf den Knien verschränkt, und seine Blicke verfolgten einen Schwärm graugefiederter Tauben, die an der trostlos abblätternden Fassade von St. Alphonsus emporflatterten.
»Sollten sie mal vergiften, die Vögel«, sagte er. »Sauen alles ein.«
Michael zündete sich eine Zigarette an und bot dem Mann die Schachtel an. Der Mann nahm eine und nickte dankend. Michael reichte ihm das fast leere Streichholzheftchen.
Oben an der Ecke Magazine und Jackson ging Michael in eine finstere, übel aussehende Kneipe in einem jämmerlichen alten, schiefen Holzschindelbau. In all den Jahren in San Francisco hatte er nie einen so heruntergekommenen Laden gesehen. Ein Weißer hing wie ein Schatten im hinteren Ende und starrte ihn mit glitzernden Augen in einem rissigen, brüchigen Gesicht an. Auch der Barkeeper war weiß. »Geben Sie mir ein Bier«, sagte Michael.
»Was für eins?«
»Ist mir scheißegal.«
Sein Timing war perfekt.
Um genau drei Uhr stand er vor dem offenen Tor. Zum erstenmal sah er das Haus im Sonnenschein, und sein Puls beschleunigte sich. Hier, ja. Sogar in seinem vernachlässigten Zustand war es würdevoll und großartig; es schlummerte nur unter den Hängeranken. Die langgestreckten Blendläden waren verkrustet von abblätternder grüner Farbe, aber sie hingen immer noch gerade an den eisernen Angeln. Alles wartete…
Ein Schwindelgefühl überkam ihn, als er es anschaute, ein flüchtiges Entzücken darüber, daß er – egal, aus welchen Gründen – wieder hergekommen war. Daß ich tue, was ich tun soll…
Er ging die Treppe hinauf und stieß gegen die Tür, und als sie sich öffnete, betrat er den langen, breiten Flur. In San Francisco war er nie in einem solchen Gebäude gewesen, hatte er nie unter einer so hohen Decke gestanden oder so anmutige, hohe Türen gesehen.
Ein tiefer Glanz wohnte in den Kiefernholzdielen, trotz des klebrigen Staubrandes, der sich an den Wänden entlangzog. Oben blätterte die Farbe von den Stuckverzierungen, aber sie selbst waren noch ganz in Ordnung. Er empfand Liebe zu allem, was er hier sah – Liebe zu der Handwerkskunst in den sich nach oben verjüngenden, schlüssellochförmigen Türen, in dem wunderschönen Geländerpfosten und den Balustraden der langgezogenen Treppe. Er liebte es, wie der Boden unter seinen Füßen sich anfühlte – so solide. Und der warme, gute Holzgeruch des Hauses erfüllte ihn mit einer plötzlichen, sehr willkommenen Zufriedenheit. So roch ein Haus nur an einem einzigen Ort auf der
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