Hexenstunde
Gewichtes auf ihr, seine Hände, die fast an ihren Haaren zerrten. Sie ballte die Rechte zur Faust und schürfte mit den Fingerknöcheln über den dunklen Schatten der Bartstoppeln an seinem Kinn.
»Es war, als würde ich es mir selber machen«, sagte sie leise, und sie faßte seine linke Hand und zog sie zu sich herunter, so daß sie die Handfläche küssen konnte. Sofort wurde er steif, und sein Schwanz bohrte sich zwischen ihre Schenkel. »Es war nicht das Stoßen und Drängen eines anderen Menschen. Nicht lebende Zellen an lebenden Zellen.«
»Hmmm, ich liebe sie, diese lebenden Zellen«, schnurrte er ihr ins Ohr, und dann küßte er sie rauh. Er verschlang sie mit seinen Küssen, und ihr Mund kam ihm entgegen, ebenso hungrig und respektlos und fordernd wie sein eigener.
Als sie aufwachte, war es vier Uhr. Zeit, in die Klinik zufahren. Nein. Michael schlief tief. Den überaus sanften Kuß auf seiner Wange spürte er nicht. Sie zog den dicken weißen Frotteemantel an, den sie im Schrank fand, und ging lautlos hinaus ins Wohnzimmer der Suite. Das einzige Licht kam von der Avenue herauf.
Die Straße lag verlassen dort unten. Still wie eine Theaterkulisse. Sie liebte die frühmorgendlichen Straßen, wenn sie so waren – wenn man das Gefühl hatte, man könnte, wenn man Lust hätte, hinuntergehen und dort tanzen wie auf einer Bühne, denn die weißen Linien und die Lichter der Ampeln hatten jetzt keinerlei Bedeutung.
Sie fühlte sich klar und gut und sicher hier. Das Haus wartete, aber das Haus wartete schon lange.
Von der Telefonistin erfuhr sie, daß es noch keinen Kaffee gebe. Aber eine Nachricht sei für sie und Mr. Curry gekommen, von einem Mr. Lightner: Er werde im Laufe des Tages zum Hotel kommen und sei bis dahin im Haus auf dem Land zu erreichen. Rowan notierte sich die Nummer.
Sie ging in die kleine Küche, fand dort eine Kanne und Kaffee und brühte sich selbst welchen auf. Dann kehrte sie zurück ins Wohnzimmer; sorgfältig schloß sie die Schlafzimmertür und dann die Tür zu dem kleinen Korridor zwischen Schlaf- und Wohnzimmer.
Wo war die Akte über die Mayfair-Hexen? Wo hatte Michael die Aktentasche hingelegt, die er aus dem Auto mit heraufgebracht hatte?
Sie durchsuchte das kleine Wohnzimmer mit den volantverzierten Sesseln und der kleinen Couch. Sie durchsuchte das kleine Schreibzimmer, die Schränke, sogar die Küche. Dann huschte sie zurück in den Korridor und betrachtete ihn im Licht, das durch das Fenster hereinschien, wie er schlief. Er hatte Locken im Nacken.
Im Wandschrank nichts. Im Bad auch nichts.
Clever, Michael. Aber ich werde sie finden. Und dann sah sie eine Ecke des Aktenkoffers. Er hatte ihn hinter den Sessel geschoben.
Nicht eben vertrauensvoll. Aber ich tue ja auch genau das, was ich mehr oder weniger versprochen habe, bleiben zu lassen, dachte sie. Sie zog den Aktenkoffer heraus, hielt noch einmal inne, um auf das Geräusch seines tiefen Atmens zu lauschen, und dann schloß sie die Tür, ging auf Zehenspitzen durch den Korridor und schloß auch die .zweite Tür. Sie legte den Aktenkoffer auf den Couchtisch, in den Lichtkreis der Lampe.
Dann holte sie sich ihren Kaffee und ihre Zigaretten, setzte sich auf die Couch und sah auf die Uhr. Es war Viertel nach vier.
Sie klappte den Aktenkoffer auf und nahm den großen Stapel Mappen heraus. Auf jeder stand der kuriose Titel: Die Akte über die Mayfair-Hexen. Sie mußte lächeln.
Es war alles so ordentlich. »Unschuldig«, flüsterte sie. »Sie sind alle so unschuldig. Der Mann auf dem Dachboden war vermutlich auch so unschuldig. Und diese alte Frau – eine Hexe bis ins Mark.« Sie hielt inne, nahm den ersten Zug von ihrer Zigarette und fragte sich, warum sie es so vollständig verstand und warum sie so sicher war, daß sie – Aaron und Michael – es nicht verstanden.
Sie blätterte rasch durch das Manuskript und verschaffte sich einen Gesamteindruck, wie sie es immer mit den wissenschaftlichen Texten tat, die sie auf einen Satz verschlingen wollte.
Kein Problem, das Ganze in vier Stunden zu schaffen. Mit etwas Glück würde Michael noch so lange schlafen. Die ganze Welt würde schlafen. Sie machte es sich auf der Couch bequem, legte die bloßen Füße auf die Tischkante und fing an zu lesen.
Um neun Uhr ging sie langsam die First Street hinunter, bis sie an der Ecke Chestnut Street ankam. Die Morgensonne stand bereits hoch am Himmel, und die Vögel sangen beinahe wütend im Blätterdach über ihr. Das scharfe
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