Hexenstunde
vielen Jahren der Mann gestorben war und wo die alte Frau zu ihr gesagt hatte: »Du hast die Wahl! Zerreiße die Kette!« Die alte Frau, wie sie versucht hatte, ihre Kruste aus Bosheit und Niedertracht und Kälte zu durchbrechen. Wie sie versucht hatte, Rowan etwas anzubieten, das sie selbst als glänzend und rein wahrnahm. In einem Zimmer mit dem Mann, der dort gestorben war, hilflos eingewickelt in einen Teppich, während unten in den anderen Räumen das Leben weiterging.
»Laß uns gehen, Liebste«, sagte er. »Laß uns ins Hotel zurück fahren. Ich bestehe darauf. Laß uns einfach in eins von diesen großen, weichen Hotelbetten kriechen und uns zusammenkuscheln.«
»Können wir zu Fuß gehen, Michael? Können wir langsam zu Fuß durch die Dunkelheit gehen?«
»Ja, Honey, wenn du möchtest.«
Sie hatten keinen Schlüssel zum Abschließen. Sie ließen die Lichter hinter den schmutzigen schweren Vorhängen brennen. Sie gingen den Weg hinunter und durch das rostige Tor hinaus.
Michael schloß den Wagen auf, nahm eine Aktentasche heraus und zeigte sie ihr. Das sei die ganze Geschichte, sagte er, aber sie könne sie erst lesen, wenn er ihr ein paar Dinge erklärt habe. Morgen beim Frühstück würden sie darüber reden. Er habe Aaron versprochen, daß er ihr die Akte nicht ohne ein paar Erklärungen in die Hand geben würde, und das geschehe um ihretwillen. Aaron wolle, daß sie alles verstehe.
Sie nickte. Sie hegte kein Mißtrauen gegen Aaron Lightner. Niemand konnte ihr etwas vormachen, und Aaron hatte es nicht nötig, jemandem etwas vorzumachen. Aber wenn sie jetzt an ihn dachte, wenn sie sich an seine Hand auf ihrem Arm erinnerte, hatte sie das unbehagliche Gefühl, daß auch er ein Unschuldiger sei, ein Unschuldiger wie Michael. Und was sie so unschuldig machte, war die Tatsache, daß sie die Bosheit im Menschen eigentlich nicht verstanden.
Sie war jetzt so müde. Ganz gleich, was man zu sehen oder zu fühlen oder zu erkennen bekommt, man wird müde. Man kann nicht Stunde um Stunde, Tag für Tag trauern. Aber als sie zu dem Haus zurückschaute, dachte sie an die alte Frau, wie sie kalt und klein und tot in ihrem Schaukelstuhl lag, und nie würde ihr Tod verstanden oder gesühnt werden.
Michael blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte die Haustür an. Sie zupfte an seinem Ärmel und trat dicht an ihn heran.
»Sieht aus wie ein großes Schlüsselloch, nicht wahr?« meinte sie.
Er nickte, aber er schien weit weg zu sein, ganz verloren in seinen Gedanken. »So hat man diesen Stil genannt – den Schlüsselloch-Stil«, murmelte er. »Gehört zu diesem ägyptisch-griechisch-italienischen Mischmasch, den man so sehr liebte, als dieses Haus gebaut wurde.«
»Na, sie haben ihre Sache gut gemacht«, sagte sie müde. Sie wollte ihm von der Tür erzählen, die die Gruft auf dem Friedhof zierte, aber sie war zu müde.
Langsam gingen sie weiter, erst zur Philip Street, dann hinauf zur Prytania und weiter zur Jackson Avenue. An wunderhübschen Häusern gingen sie im Dunkeln vorbei, an Gartenmauern. Und weiter ging es, zur St. Charles Avenue, vorbei an geschlossenen Geschäften und Bars und zum Hotel. Nur gelegentlich huschte ein Auto vorüber, und einmal erschien die Straßenbahn mit mächtigem Eisengeratter; sie bog um die Kurve und donnerte davon, und ihre leeren Fenster waren von buttergelbem Licht erfüllt.
Unter der Dusche liebten sie einander; sie küßten und berührten sich gegenseitig hastig und unbeholfen, und das Gefühl der Lederhandschuhe trieb Rowan zu beinahe wahnsinniger Erregung, als sie ihre nackten Brüste berührten und zwischen ihre Beine hinunterglitten. Das Haus war verschwunden, die alte Frau ebenso, und auch die arme, traurige, schöne Deirdre. Nur Michael gab es noch, nur diese starke Brust, von der sie geträumt hatte, und seinen dicken Schwanz in ihren Händen, der da aus seinem Nest von dunkel glänzendem Kraushaar heraufragte.
Nachher, als sie warm und trocken ins Bett stiegen und die Klimaanlage leise rauschte, streifte Michael die Handschuhe ab, und sie begannen von neuem. »Ich kann nicht aufhören, dich zu berühren«, sagte er. »Ich kann es nicht ertragen, und ich will dich fragen, wie es war, als diese Sache passierte, aber ich weiß, daß ich dich danach nicht fragen sollte; weißt du, es ist, als hätte ich das Gesicht des Mannes gesehen, der dich berührt hat…«
Sie lag auf dem Rücken und schaute im Halbdunkel zu ihm auf; sie liebte die köstliche Last seines
Weitere Kostenlose Bücher