Hexenstunde
Krächzen einer Krähe durchdrang ihren sanfteren Chor. Eichhörnchen huschten auf den dicken, schweren Ästen umher, die sich tief und ausladend über Zäune und Ziegelmauern streckten. Die sauber gefegten, backsteingepflasterten Gehwege lagen verlassen da; die ganze Gegend schien ihren Blumen, ihren Bäumen und ihren Häusern zu gehören. Selbst die gelegentlichen Verkehrsgeräusche wurden von der alles umschließenden Stille und dem Grün verschluckt.
Aaron Lightner erwartete sie bereits am Tor.
Sie hatte ihn um acht Uhr angerufen und um dieses Treffen gebeten, und schon aus einiger Entfernung sah sie, daß ihn ihre Reaktion auf das, was sie gelesen hatte, mit tiefer Sorge erfüllte.
Sie nahm sich Zeit beim Überqueren der Kreuzung. Langsam und mit gesenktem Blick näherte sie sich ihm; noch immer schwirrte ihr der Kopf von der langen Geschichte und all den Details, die sie so hastig hatte aufnehmen müssen.
Als sie sich schließlich vor ihm sah, ergriff sie seine Hand. Sie hatte sich nicht zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte. Es würde sie auf eine harte Probe stellen. Aber es war ein gutes Gefühl, hier zu sein, seine Hand zu halten und sie zu drücken, während sie den Ausdruck seines offenherzigen, sympathischen Gesichtes studierte.
»Danke«, sagte sie, und sie fand, daß ihre Stimme schwach und unzulänglich klang. »Sie haben die schlimmsten und quälendsten Fragen meines Lebens restlos beantwortet. Tatsächlich können Sie gar nicht ahnen, was Sie für mich getan haben. Sie und Ihre Beobachter – Sie haben den dunkelsten Teil meiner selbst gefunden. Sie wußten, was das war, und haben ein Licht darauf gerichtet -, und Sie haben es mit etwas Größerem, Älterem verbunden, das aber ebenso real ist.« Sie schüttelte den Kopf, ohne seine Hand loszulassen, und bemühte sich, weiterzureden. »Ich weiß nicht, wie ich sagen soll, was ich sagen will«, gestand sie. »Ich bin nicht mehr allein! Ich meine – ich, alles, was ich bin, nicht bloß der Name und der Teil, den die Familie haben will. Ich meine das, was ich bin.« Sie seufzte. Diese Worte waren so unbeholfen und die Gefühle dahinter so gewaltig – ebenso gewaltig wie ihre Erleichterung.
Sie sah, daß er erstaunt und auch leicht verwirrt war. Langsam nickte er. Und sie fühlte seine Güte und vor allem seine Bereitwilligkeit, ihr zu vertrauen.
»Was kann ich jetzt für Sie tun«, fragte er mit absoluter und entwaffnender Offenheit.
»Kommen Sie ins Haus«, sagte sie. »Lassen Sie uns miteinander reden.«
30
Elf Uhr. Er setzte sich im Dunkeln auf und starrte auf die Digitaluhr auf dem Tisch. Wie hatte er nur so lange schlafen können? Er hatte die Vorhänge offengelassen, damit das Licht ihn wecken würde. Aber jemand hatte sie zugezogen. Und seine Handschuhe. Wo waren seine Handschuhe? Er fand sie, zog sie an und stand auf.
Der Aktenkoffer war weg. Er wußte es, bevor er hinter dem Sessel nachgeschaut hatte. Sie hatte ihn ausgetrickst.
Sofort zog er seinen Bademantel an und ging durch die kleine Diele zum Wohnzimmer. Niemand da. Nur der versengte Geruch von kaltem Kaffee aus der Küche und ein Hauch von Zigarettenrauch in der Luft.
Und da, auf dem Couchtisch, der leere Aktenkoffer – und die Akte. Braune Hefter in zwei ordentlichen Stapeln.
»Ach, Rowan«, stöhnte er. Aaron würde ihm nie verzeihen. Jetzt hatte Rowan gelesen, daß Karen Garfield und Dr. Lemle gestorben waren, nachdem sie mit ihnen gesprochen hatte. Sie hatte all den delikaten Tratsch gelesen, den man im Laufe der Jahre von Ryan Mayfair und von Bea und anderen zusammengetragen hatte, die sie ja höchstwahrscheinlich auf der Beerdigung kennengelernt hatte. Das und tausend andere Dinge, an die er im Moment nicht einmal denken konnte.
Wenn er jetzt ins Schlafzimmer ginge und feststellte, daß alle ihre Sachen weg waren… Aber ihre Garderobe war ja sowieso nicht hier, sondern in ihrem Zimmer.
Er blieb stehen und kratzte sich am Kopf; er wußte nicht, was er zuerst tun sollte – in ihrem Zimmer anrufen, Aaron alarmieren oder einfach in heulenden Wahnsinn verfallen. Dann sah er den Zettel.
Er lag neben den beiden Hefterstapeln, ein einzelnes Blatt Hotelpapier, beschrieben mit einer sehr klaren, geraden Handschrift.
Acht Uhr dreißig. Michael,
habe die Akte gelesen. Ich liebe Dich. Keine Sorge.
Treffe mich um neun mit Aaron. Kannst Du um drei zum Haus kommen? Ich muß ein Weilchen dort allein sein. Werde Dich gegen drei erwarten. Wenn nicht,
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