Hexenstunde
verlassen; große Platten von verwittertem Sperrholz bedeckten alle Türen und Fenster, und der Garten, in dem er gespielt hatte, war ein Unkrautdschungel, umgeben von einem häßlichen Drahtzaun. Er sah nichts von den Jalapen, die hier früher sommers wie winters rosig und duftend geblüht hatten, und auch die Bananenstauden am alten Schuppen am Ende des Gartens waren fort. Der kleine Lebensmittelladen an der Ecke war mit einem Vorhängeschloß gesichert und verlassen. Und in der alten Bar an der Ecke war kein Lebenszeichen zu entdecken.
Nach und nach erkannte er, daß er weit und breit der einzige Weiße war.
Immer tiefer drang er in die traurige Schäbigkeit ein. Hier und da war ein schön angestrichenes Haus zu sehen; ein hübsches schwarzes Kind mit Zöpfchen und stillen runden Augen klebte an einem Gartentor und starrte zu ihm auf. Aber all die Leute, die er vielleicht hätte kennen können, waren längst nicht mehr hier.
Das hier war jetzt eine Stadt der Schwarzen, und er spürte kalte, abschätzende Blicke auf sich, als er in die Josephine Street einbog und auf die alten Kirchen und die alte Schule zuging. Noch mehr Holzhäuschen, mit Brettern vernagelt. Das Erdgeschoß eines Mietshauses völlig ausgeschlachtet. Zerfetzte, aufquellende Polstermöbel türmten sich am Randstein.
Trotz allem, was er bis dahin schon gesehen hatte, war der Anblick der verlassenen Schulgebäude ein Schock. In den Fenstern der Zimmer, in denen er vor so vielen Jahren gebüffelt hatte, waren die Scheiben zerbrochen. Und da, die Turnhalle, bei deren Bau er mitgeholfen hatte, sah so abgenutzt aus, ein Gebäude aus einer anderen Zeit, ganz und gar vergessen.
Nur die Kirchen, St. Mary und St. Alphonsus, standen noch da, stolz und scheinbar unzerstörbar. Aber ihre Türen waren verschlossen. Und im Sakristeigarten von St. Alphonsus reichte ihm das Unkraut bis zu den Knien. Er sah die alten Stromkästen, offen und verrostet, die Sicherungen herausgerissen.
»Woll’n Sie die Kirche sehen?«
Er drehte sich um. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit rundem Bauch und einem schwitzenden rosaroten Gesicht hatte ihn angesprochen. »Müssen Sie ins Pfarrhaus gehen; die lassen Sie rein.«
Michael nickte.
Sogar das Pfarrhaus war abgeschlossen. Man mußte läuten und auf den Türsummer warten. Die kleine Frau mit den dicken Brillengläsern und dem kurzgeschnittenen braunen Haar sprach durch eine Glasscheibe.
Er zog eine Handvoll Zwanzig-Dollar-Scheine hervor. »Ich möchte eine Spende abgeben«, sagte er. »Und ich würde gern beide Kirchen sehen, wenn ich dürfte.«
»St. Alphonsus können Sie nicht anschauen«, sagte sie. »Die wird nicht mehr benutzt. Der Bau ist nicht mehr sicher. Der Putz fällt herunter.«
Der Putz! Er erinnerte sich an die prachtvollen Gemälde unter der Decke, an die Heiligen, die aus einem blauen Himmel auf ihn herabgeschaut hatten. Unter diesem Dach war er getauft worden, zur Ersten Kommunion und später zur Firmung gegangen. Und an jenem letzten Abend hier war er zusammen mit den anderen High-School-Absolventen mit weißer Mütze und Gewand durch den Mittelgang der Kirche geschritten, und es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, sich ein letztes Mal umzuschauen, so aufgeregt war er gewesen, weil er nun mit Mutter in den Westen gehen würde.
»Wo sind sie denn alle geblieben?« fragte er.
»Weggezogen«, sagte sie und winkte ihm, ihr zu folgen, und sie führte ihn durch das Pfarrhaus geradewegs in die Kirche von St. Mary. »Und die Farbigen kommen nicht.«
»Aber warum ist alles abgeschlossen?«
»Wir hatten hier einen Raubüberfall nach dem anderen.«
Sie führte ihn durch das Gotteshaus. Hier war er Meßdiener gewesen. Er hatte den Meßwein eingeschenkt. Das Glücksgefühl durchströmte ihn wie ein leises Pochen, als er die Reihen der hölzernen Heiligen sah, das langgestreckte hohe Kirchenschiff mit den hintereinander aufragenden gotischen Spitzbögen. Alles prachtvoll, alles intakt. Man brauchte nicht viel Phantasie, um die uniformierten Schüler vor sich zu sehen, wie sie reihenweise aus den Sitzbänken hervorkamen, um zur Kommunion zu gehen. Die Mädchen in weißen Blusen und blauen Wollröcken, die Jungen in Khakihemden und -hosen. Aber seine Erinnerung durchwanderte all die Jahre: Mit acht hatte er hier das Weihrauchfaß geschwungen, dort auf den Stufen, beim Segen.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte die kleine Frau. »Kommen Sie durch das Pfarrhaus zurück, wenn Sie fertig sind.«
Eine halbe Stunde
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