Hexenstunde
saß er in der ersten Bank. Er wußte nicht genau, was er hier eigentlich tat. Vielleicht prägte er sich die Einzelheiten ein, die er aus der Erinnerung nicht hätte heraufbeschwören können. Nie wieder wollte er sie vergessen, die Namen der unter dem Altar Begrabenen, die dort in den Marmorboden gemeißelt waren, nie wieder auch die gemalten Engel hoch oben an der Decke. Oder das Fenster ganz rechts, wo die Engel und Heiligen Holzschuhe trugen! Wie sonderbar. Konnte so etwas wohl jetzt noch jemand erklären? Wenn er bedachte, daß er es nie zuvor bemerkt hatte, und wenn er bedachte, wie viele Stunden er hier in der Kirche verbracht hatte…
Und wenn er an Marie Louise dachte, mit den großen Brüsten unter der gestärkten weißen uniformähnlichen Bluse, wie sie während des Gottesdienstes in ihrem Meßbuch las. Und an Rita Mae Dwyer, die schon mit vierzehn wie eine erwachsene Frau ausgesehen hatte. Sonntags hatte sie zu ihrem roten Kleid sehr hohe Absätze und große goldene Ohrringe getragen. Michaels Vater war einer der Männer gewesen, die mit dem Kollektenbeutel an einer langen Stange durch die Gänge heruntergekommen waren und ihn mit angemessen feierlicher Miene nacheinander in jede Reihe hineingereicht hatten. In jenen Tagen hatte man in einer katholischen Kirche nicht einmal zu flüstern gewagt, wenn es nicht unvermeidlich gewesen war.
Was hatte er sich denn gedacht – daß sie alle hier sein und ihn erwarten würden? Ein Dutzend Rita Maes in geblümten Kleidern zu einem Mittagsbesuch in der Kirche?
Am vergangenen Abend hatte Rita Mae gesagt: »Geh da nicht wieder hin, Mike. Behalte es so in Erinnerung, wie es früher war.«
Endlich rappelte er sich wieder auf. Er schlenderte den Gang hinauf zu den alten hölzernen Beichtstühlen. Er fand die Plakette an der Wand mit der Liste derjenigen, die in letzter Zeit für die Restaurierung gespendet hatten. Er schloß die Augen, und für einen Moment bildete er sich ein, die spielenden Kinder auf dem Schulhof zu hören, das Pausengeschrei zahlloser Stimmen.
Aber da war kein solches Geräusch. Nicht das wuchtige Zischen der Schwingtüren, wenn Gemeindemitglieder kamen und gingen. Nur der feierliche, leere Raum. Und die Jungfrau unter ihrer Krone auf dem Hochaltar.
Klein und weit weg sah das Standbild aus. Es kam ihm in den Sinn, daß er eigentlich davor beten sollte. Er sollte die Jungfrau oder Gott selbst fragen, weshalb er wieder hierher geführt worden war und was es bedeutete, daß er dem kalten Griff des Todes entrissen worden war. Aber er glaubte nicht an die Standbilder auf dem Altar. Und keine Erinnerung an einen kindlichen Glauben wollte zu ihm zurück kehren.
Die Erinnerung, die statt dessen kam, war sehr spezifisch und unbehaglich, schäbig und gemein. Er und Marie Louise hatten sich gleich hinter einer dieser großen Vordertüren heimlich getroffen, um miteinander zu reden. In Strömen hatte es geregnet. Und Marie Louise hatte ihm widerstrebend gestanden: Nein, sie sei nicht schwanger. Wütend war sie gewesen, weil sie sich zu dem Geständnis gezwungen gesehen hatte, wütend auch, weil er so erleichtert gewesen war. »Willst du denn nicht heiraten? Warum spielen wir dann diese blöden Spielchen?«
Was wäre aus ihm geworden, wenn er Marie Louise geheiratet hätte? Er sah ihre großen, mürrischen Augen vor sich. Er spürte ihre Bitterkeit, ihre Enttäuschung. Er konnte es sich nicht vorstellen.
Marie Louises Stimme kehrte zurück. »Du weißt, daß du mich früher oder später heiraten wirst. Wir sind füreinander bestimmt.«
Bestimmt. War er dazu bestimmt gewesen, von hier fortzugehen, dazu bestimmt, zu tun, was er in seinem Leben getan hatte, dazu bestimmt, so weit zu reisen? War er dazu bestimmt gewesen, von der Klippe ins Meer zu fallen und langsam hinauszutreiben, weg von den Lichtern an Land?
Er dachte an Rowan – nicht bloß an ihre visuelle Erscheinung, sondern an alles, was Rowan jetzt für ihn bedeutete. Er dachte an ihre Reize und ihre Sinnlichkeit, an das Geheimnisvolle an ihr, an ihren schlanken, straffen Körper, der sich unter der Decke an ihn kuschelte, an ihre samtweiche Stimme und ihre kalten Augen. Er dachte daran, wie sie ihn ansah, bevor sie miteinander schliefen, so selbstvergessen, ohne an ihren eigenen Körper zu denken, ganz vertieft in den seinen. Kurz, sie sah ihn an, wie ein Mann eine Frau ansah. Ebenso hungrig, ebenso aggressiv, und doch von so magischer Nachgiebigkeit in seinen Armen.
Er starrte noch immer auf
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