Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
auf dem Schulhof die Blumen zu Deirdre fliegen ließ.«
    »Schwester, Sie denken wahrscheinlich, ich bin der Neue hier«, sagte Pater Mattingly lachend, »und deshalb glaube ich solche Geschichten.«
    Am folgenden Sonntag besuchte er die Mayfairs wieder. Wieder bot man ihm Kaffee und plauderte angeregt – es war alles so himmelweit entfernt von Schwester Bridget Maries Geschichten. Das Radio im Hintergrund spielte Rudy Vallee. Die alte Miss Belle begoß die Topf-Orchideen, die ihre Blätter hängen ließen. Der Duft von Brathuhn kam aus der Küche. Alles in allem ein behagliches Haus.
    Beim Gehen hatte er Deirdre im Garten gesehen, ein weißes Gesicht, das hinter einem knorrigen Baum hervor zu ihm herüberspähte. Er hatte ihr zugewinkt, ohne stehen zu bleiben, aber nachher beunruhigte ihn etwas an dem Bild in seiner Erinnerung. War es, daß die Locken ganz verfilzt gewesen waren? Oder der geplagte Ausdruck in ihren Augen?
    Wahnsinn – das war es, was Schwester Bridget Marie ihm beschrieben hatte, und es beunruhigte ihn, sich vorzustellen, daß dieses zarte Kind davon bedroht sein sollte. Echter Wahnsinn hatte nichts Romantisches für Pater Mattingly. Seit langem war er der Auffassung, daß die Wahnsinnigen in einer Hölle der Sinnlosigkeit lebten. Ihnen entging der Sinn des Lebens ringsumher.
    Aber Miss Carlotta war eine vernünftige, moderne Frau. Das Kind war nicht dazu verurteilt, in die Fußstapfen seiner toten Mutter zu treten. Im Gegenteil, es würde jede mögliche Chance bekommen.
    Ein Monat verging, bevor sich seine Meinung über die Mayfairs ein für allemal änderte, an jenem unvergeßlichen Sonntag nachmittag, als Deirdre Mayfair zur Beichte in die St.-Alphonsus-Kirche kam.
    Er saß in dem zierlichen Holzgehäuse des Beichtstuhls auf seinem schmalen Sitz hinter einem grünen Sergevorhang und lauschte den Büßern, die abwechselnd rechts und links von ihm in den kleinen Zellen niederknieten. Die gleichen Stimmen, die gleichen Sünden hätte er auch in Boston oder in New York City hören können, so sehr ähnelten sich die Akzente, die Sorgen, die Vorstellungen.
    Dann hatte ihn unverhofft eine Kinderstimme überrascht; schnell und lebhaft kam sie durch das dunkle, staubige Gitter – voll intelligenter und altkluger Beredtsamkeit. Er erkannte sie nicht. Schließlich hatte Deirdre Mayfair in seiner Gegenwart noch kein einziges Wort gesprochen.
    »Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte war vor ein paar Wochen. Bitte helfen Sie mir, Pater. Ich kann mich gegen den Teufel nicht wehren. Ich versuche es, und ich schaffe es nie. Und ich muß dafür in die Hölle.«
    Was war das – wieder Schwester Bridget Maries Einfluß? Aber noch bevor er etwas sagen konnte, sprach das Kind weiter, und da wußte er, es war Deirdre.
    »Ich habe dem Teufel nicht gesagt, er soll weggehen, als er die Blumen brachte. Ich wollte es, und ich weiß, ich hätte es auch tun sollen, und Tante Carl ist wirklich richtig wütend auf mich. Aber, Pater, er wollte uns nur eine Freude machen. Ich schwöre Ihnen, Pater, er ist nie gemein zu mir. Und er weint, wenn ich ihn nicht ansehe und ihm nicht zuhöre. Ich wußte doch nicht, daß er die Blumen vom Altar holen würde! Manchmal macht er solche dummen Sachen, Pater, Sachen, die nur ein kleines Kind tun würde, aber mit noch weniger Verstand. Aber dabei will er niemandem wehtun.«
    »Jetzt warte mal, liebes Kind – wie kommst du auf den Gedanken, der Teufel persönlich würde ein kleines Mädchen behelligen? Willst du mir nicht erzählen, was wirklich passiert ist?«
    »Pater, er ist nicht so, wie die Bibel sagt. Ich schwöre. Er ist überhaupt nicht häßlich. Er ist groß und schön. Genau wie ein richtiger Mann. Und er lügt nicht. Er macht hübsche Sachen, immer. Wenn ich Angst habe, kommt er zu mir und sitzt auf meiner Bettkante und küßt mich. Wirklich. Und er jagt den Leuten Angst ein, wenn sie mir etwas tun wollen.«
    »Warum sagst du dann, er ist der Teufel, Kind? Wäre es nicht besser, zu sagen, er ist ein erfundener Freund, jemand, der bei dir ist, damit du nie allein sein mußt?«
    »Nein, Pater, er ist der Teufel.« Das klang so entschieden. »Er ist nicht wirklich, aber er ist auch nicht erfunden.« Die kleine Stimme war traurig und müde geworden. Eine Frau in Gestalt eines Kindes, die sich mit einer ungeheuren Bürde plagte und dabei fast verzweifelte. »Ich weiß, daß er da ist, wenn es sonst niemand weiß, und dann schaue ich und schaue ich, und

Weitere Kostenlose Bücher