Hexenstunde
dann kann jeder ihn sehen!« Ihre Stimme brach. »Pater, ich versuche, nicht hinzuschauen. Ich sage, Jesus, Maria und Josef‹ und versuche, nicht hinzuschauen. Ich weiß, daß es eine Todsünde ist. Aber dann ist er so traurig, und er weint ohne einen Laut, und ich höre ihn trotzdem.«
»Kind, hast du denn mit deiner Tante Carl darüber gesprochen?« Seine Stimme war ruhig, aber tatsächlich begann der detaillierte Bericht des Kindes ihn zu erschrecken. Das ging über ein »Übermaß an Phantasie« hinaus; ein ähnliches Übermaß hatte er jedenfalls noch nie erlebt.
»Pater, sie weiß alles über ihn. Alle meine Tanten kennen ihn. Sie nennen ihn den Mann, aber Tante Carl sagt, in Wirklichkeit ist es der Teufel. Sie ist auch die, die sagt, es ist eine Sünde – wie wenn man sich zwischen den Beinen anfaßt oder wenn man schmutzige Gedanken hat. Oder wenn er mich küßt und es mich kalt überläuft und so weiter. Sie sagt, es ist schmutzig, den Mann anzuschauen und ihn unter die Bettdecke kommen zu lassen. Sie sagt, er kann mich umbringen. Meine Mutter hat ihn auch ihr Leben lang gesehen, und darum ist sie gestorben und in den Himmel gefahren – um von ihm wegzukommen.«
Pater Mattingly hatte es die Sprache verschlagen. Und da hieß es, einen Priester im Beichtstuhl könne nichts schockieren.
»Und die Mutter meiner Mutter hat ihn auch gesehen«, fuhr das Kind fort, mit übersprudelnder, angespannter Stimme. »Und sie war wirklich schlecht, aber er hat sie schlecht gemacht, und sie ist seinetwegen gestorben. Aber sie ist wahrscheinlich in die Hölle gefahren, nicht in den Himmel, und das werde ich vielleicht auch tun.«
»Moment mal, Kind. Wer hat dir das erzählt?«
»Meine Tante Carl, Pater«, beharrte das Kind. »Sie will nicht, daß ich in die Hölle komme wie Stella. Sie hat gesagt, ich soll beten und ihn vertreiben; das könnte ich, wenn ich es nur versuchte – wenn ich den Rosenkranz bete und ihn nicht anschaue. Aber Pater, sie wird so wütend, wenn ich ihn kommen lasse…« Das Kind brach ab. Es weinte, auch wenn es offenbar versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. »Und Tante Millie hat solche Angst. Und Tante Nancy sieht mich nicht an. Tante Nancy sagt, in unserer Familie, wer den Mann da einmal gesehen hat, der ist so gut wie verloren.«
Pater Mattingly brachte vor Schreck kein Wort heraus. Hastig räusperte er sich. »Soll das heißen, daß deine Tanten sagen, dieses Ding ist Wirklichkeit?«
»Sie haben schon immer von ihm gewußt, Pater. Und jeder kann ihn sehen, wenn ich ihn stark genug werden lasse. Es ist wahr, Pater. Jeder. Aber wissen Sie, ich muß ihn kommen lassen. Es ist keine Todsünde für andere, wenn sie ihn sehen, weil es meine Schuld ist. Meine Schuld. Man könnte ihn nicht sehen, wenn ich es nicht zuließe. Und Pater… ich – ich verstehe einfach nicht, wie der Teufel so nett zu mir sein kann und wie er so heftig weinen kann, wenn er traurig ist, und wieso er so schrecklich gern bei mir sein will…« Die Stimme ging in ein leises Schluchzen über.
»Nicht weinen, Deirdre!« sagte er in festem Ton. Aber das war doch unvorstellbar! Diese vernünftige, »moderne« Frau in ihrem Schneiderkostüm sollte dem Kind solchen Aberglauben erzählen? Und was war mit den anderen los, um Gottes willen? Neben ihnen sah jemand wie Schwester Bridget Marie ja aus wie Sigmund Freud persönlich.
Die klare Kinderstimme fuhr plötzlich in schmerzlicher Hast fort.
»Tante Carl sagt, es ist eine Todsünde, nur an ihn oder an seinen Namen zu denken. Er kommt dann sofort, wenn man seinen Namen sagt! Aber Pater, er steht neben mir, wenn sie redet, und er sagt, sie lügt, und ich weiß ja, daß es schrecklich ist, so was zu sagen, aber sie lügt manchmal wirklich. Ich weiß es, selbst wenn er nichts sagt. Aber am schlimmsten ist es, wenn er durchkommt und ihr angst macht. Und sie ihm droht! Sie sagt, wenn er mich nicht in Ruhe läßt, tut sie mir weh!« Wieder brach ihr die Stimme, aber ihr Schluchzen war kaum hörbar.
»Kind, jetzt denke aufmerksam nach, bevor du antwortest. Hat deine Tante Carl wirklich gesagt, sie hat dieses Ding gesehen?«
»Pater, sie hat ihn schon gesehen, als ich noch ein Baby war und gar nicht wußte, daß ich ihn kommen lassen konnte. Sie hat ihn gesehen an dem Tag, als meine Mutter starb. Da wiegte er mich in meiner Wiege. Und als meine Großmutter Stella ein kleines Mädchen war, da stand er hinter ihr am Abendbrottisch. Pater, ich erzähle Ihnen ein schreckliches
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