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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Geheimnis. Bei uns zu Hause gibt es ein Bild von meiner Mutter, und auf dem Bild steht er neben ihr. Ich kenne das Bild, weil er es geholt und mir gegeben hat, obwohl sie es versteckt hatten. Er hat die Kommodenschublade aufgemacht, ohne sie anzufassen, und dann hat er mir das Bild in die Hand gegeben. So was tut er, wenn er wirklich stark ist, wenn ich lange mit ihm zusammen war und den ganzen Tag an ihn gedacht habe. Dann weiß jeder, daß er im Haus ist, und Tante Nancy erwartet Tante Carl an der Tür und flüstert: ›Der Mann ist hier. Ich hab’ ihn eben gesehen.‹ Und dann wird Tante Carl so wütend. Es ist alles meine Schuld, Pater! Und ich habe Angst, daß ich ihn nicht mehr aufhalten kann. Und sie sind alle so aufgebracht!«
    Er begann zu kochen vor Wut. Was für Verrücktheiten gingen bei diesen Frauen vor? Gab es denn niemanden mit einer Spur von Verstand in der ganzen Familie, der einen Psychiater holte, damit dem Mädchen geholfen wurde?
    »Liebes Kind, jetzt hör mir einmal zu. Ich möchte, daß du mir die Erlaubnis gibst, außerhalb des Beichtstuhls mit deiner Tante Carl über diese Dinge zu sprechen. Willst du mir diese Erlaubnis geben?«
    »O nein, Pater, bitte, das dürfen Sie nicht!«
    »Kind, ich werde es nicht tun – nicht ohne deine Erlaubnis. Aber ich sage dir, ich muß mit deiner Tante Carl über diese Dinge sprechen. Deirdre, sie und ich, wir können dieses Ding zusammen vertreiben.«
    »Pater, sie wird mir nie verzeihen, daß ich es Ihnen erzählt habe. Nie. Es ist eine Todsünde, es zu erzählen. Tante Nancy würde mir nie verzeihen. Sogar Tante Millie würde wütend werden. Pater, Sie dürfen ihr nicht sagen, daß ich Ihnen von ihm erzählt habe!« Sie wurde allmählich hysterisch.
    »Ich kann diese Todsünde von dir nehmen, Kind«, erklärte er. »Ich kann dir die Absolution erteilen. Von dem Augenblick an ist deine Seele so weiß wie Schnee, Deirdre. Vertraue mir, Deirdre. Gib mir die Erlaubnis, mit ihr zu sprechen.«
    Einen angespannten Augenblick lang war das Schluchzen die einzige Antwort. Dann, noch bevor er hörte, wie der Knauf der kleinen Holztür sich drehte, wußte er, daß er sie verloren hatte. Gleich darauf hörte er ihre Schritte, als sie den Gang hinunterrannte, weg von ihm.
    Diesen Augenblick hatte er nie vergessen, wie er hilflos dagesessen und die Schritte durch das Vestibulum der Kirche hatte hallen hören, während Enge und Hitze des Beichtstuhls ihn hatten ersticken lassen. Lieber Gott, was sollte er nur tun?
    Noch Wochen danach war er regelrecht besessen gewesen, von diesen Frauen, diesem Haus…
    Aber er konnte ja nichts unternehmen – einfach gar nichts. Das Beichtgeheimnis verpflichtete ihn zum Schweigen und zur Untätigkeit. Nicht einmal Schwester Bridget Marie wagte er zu befragen, obwohl sie ihm von allein genug Informationen lieferte, als er sie zufällig auf dem Spielplatz traf. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr zuhörte, aber er brachte es nicht über sich, weg zu gehen.
    »Natürlich, sie haben Deirdre im Heiligen Herzen untergebracht. Aber glauben Sie, da wird sie bleiben? Ihre Mutter Antha haben sie von der Anstalt verwiesen, als sie gerade acht Jahre alt war. Und bei den Ursulinen ist sie auch rausgeflogen. Schließlich haben sie eine Privatschule für sie ausfindig gemacht, eine von diesen verrückten Einrichtungen, wo sie die Kinder auf dem Kopf stehen lassen. Und was für ein unglückliches Ding sie war als junges Mädchen; dauernd schrieb sie Gedichte und Geschichten und sprach mit sich selbst und wollte wissen, wie ihre Mutter gestorben war. Sie wissen, daß sie ermordet wurde, oder, Pater? Daß Stella Mayfair von ihrem Bruder Lionel erschossen wurde. Auf einem Kostümball in diesem Haus hat er es getan. Hat eine regelrechte Panik ausgelöst. Spiegel, Uhren, Fenster, war alles zerbrochen, als es vorbei war, und Stella lag tot auf dem Boden.«
    Pater Mattingly schüttelte nur voller Mitleid den Kopf.
    »Kein Wunder, daß Antha danach wild wurde, und keine zehn Jahre später ließ sie sich ausgerechnet mit einem Maler ein, der sich nie die Mühe machte, sie zu heiraten, und sie schließlich mitten im Winter in einem vierstöckigen Mietshaus in Greenwich Village sitzenließ, ohne Geld und mit der kleinen Deirdre, die versorgt werden mußte, so daß sie in Schmach und Schande nach Hause kam. Und dann aus dem Dachfenster sprang, das arme Ding – aber was für ein Höllenleben war das auch, wo die Tanten auf ihr herumhackten und jeden

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