Hexenstunde
Wirklichkeit gar nicht ankommen wollte. Er wollte den verkommenen Garten nicht aus der Nähe sehen, wo Chinabeere und Oleander mit kornfeldhohem Gras kämpften und die Veranden, ihrer Farbe ledig, jenes stumpfe Grau annahmen, wie es altes Holz, das niemand pflegt, im feuchten Klima von Louisiana immer annimmt.
Er wollte nicht einmal in dieser stillen, verlassenen Gegend sein. Nichts regte sich hier, außer Insekten, Vögeln und den Pflanzen selbst, die langsam das Licht und das Blau des Himmels verschluckten. Sumpfland mußte das alles einmal gewesen sein. Eine Brutstätte des Bösen.
Unwillkürlich mußte er an all die Geschichten denken, die man sich über die Mayfair-Frauen erzählte. Was war Voodoo, wenn nicht Teufelsanbetung? Und welches war die schlimmere Sünde, Mord oder Selbstmord? Ja, das Böse hatte hier geblüht. Er hörte das Flüstern des Kindes Deirdre an seinem Ohr. Und er fühlte das Böse, als er sich mit seinem Gewicht gegen den Eisenzaun lehnte und in die hartborkigen schwarzen Eichenäste hinaufschaute, die sich wie ein Fächer über ihm ausbreiteten.
Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Die kleine Deirdre hatte ihm erzählt, sie habe den Teufel gesehen! Er hörte ihre Stimme so deutlich wie vor Jahrzehnten, damals im Beichtstuhl. Und er hörte ihre Schritte, wie sie zur Kirche hinauslief, wegrannte vor ihm, wegrannte vor seinem Unvermögen, ihr zu helfen.
Aber angefangen hatte es vorher. Angefangen hatte es an einem öden, trägen Freitag nachmittag, als ein Anruf von Schwester Bridget Marie gekommen war: Ein Priester solle bitte rasch zum Schulhof kommen. Es sei wieder einmal Deirdre Mayfair.
Pater Mattingly hatte noch nie von Deirdre Mayfair gehört. Pater Mattingly war gerade frisch vom Priesterseminar in Kirkwood, Missouri, in den Süden gekommen.
Schwester Bridget Marie fand er ohne weiteres auf einem asphaltierten Platz hinter dem Konventsgebäude. Wie europäisch es ihm damals vorgekommen war, altertümlich und traurig mit den brüchigen Mauern und dem knorrigen Baum inmitten eines Vierecks von Holzbänken. Der Schatten tat gut, als er herankam. Aber dann sah er, daß die kleinen Mädchen, die auf der Bank saßen, weinten. Schwester Bridget Marie hielt ein bleiches, zitterndes Kind beim Oberarm. Das Kind war weiß vor Angst. Aber sehr hübsch, die blauen Augen zu groß für das schmale Gesicht, das schwarze Haar sorgsam zu langen Korkenzieherlocken gedreht, die jetzt bebend an ihren Wangen lagen, die Gliedmaßen wohlproportioniert und zart.
Blumen lagen verstreut auf dem Boden – große Gladiolen und weiße Lilien und lange grüne Farnwedel und sogar dicke, wohlgeformte rote Rosen. Aus einem Blumengeschäft sicher, aber es waren so viele…
»Sehen Sie das, Pater?« rief Schwester Bridget Marie. »Und sie haben die Stirn, mir zu erzählen, sie stammen von ihrem unsichtbaren Freund, dem Teufel persönlich. Er habe ihnen diese Blumen hierhergebracht, sie ihnen in die Arme gelegt, während sie zuschauten, die kleinen Diebinnen! Sie haben die Blumen geradewegs vom Altar der St.-Alphonsus-Kirche gestohlen…«
Die kleinen Mädchen begannen zu schreien. Eines stampfte mit dem Fuß auf. Mit erschreckender Wut gellte ein Chor von »Wir haben ihn gesehen! Wir haben ihn gesehen!« los, die eine steckte die andere an mit ihrem erstickten Schluchzen.
Schwester Bridget Marie befahl ihnen laut, zu schweigen. Sie schüttelte das kleine Mädchen, das sie beim Arm hielt, obwohl das Kind kein Wort gesagt hatte. Erschrocken klappte das Mädchen den Mund auf, verdrehte die Augen zu Pater Mattingly und schaute ihn in stummer Beschwörung an.
»Aber, Schwester – bitte«, sagte Pater Mattingly. Behutsam befreite er das Kind. Es war benommen und ganz fügsam. Er wollte die Kleine auf den Arm nehmen und ihr das Gesicht abwischen, das von Tränen schmutzig verschmiert war. Aber er tat es nicht.
»Ihr unsichtbarer Freund«, sagte die Schwester, »der alles Verlorene wiederfindet, Pater. Der ihr Pennys für Süßigkeiten in die Tasche steckt. Und sie essen alle davon, stopfen sich die Mäuler damit voll. Gestohlene Pennys, da können Sie sicher sein.«
Die kleinen Mädchen heulten noch lauter. Und Pater Mattingly merkte, daß er die Blumen zertrat und daß das stumme bleiche Kind auf seine Schuhe und auf die zerdrückten weißen Blüten darunter starrte.
»Lassen Sie die Kinder hineingehen«, sagte Pater Mattingly. Es kam jetzt darauf an, das Kommando zu übernehmen. Erst dann würde
Weitere Kostenlose Bücher