Hexenstunde
darauffolgenden Tagen war sie Pater Mattingly nicht aus dem Sinn gegangen, die Sache mit den Blumen.
Es war kaum vorstellbar, wie eine Bande kleiner Mädchen über das Gitter der Kommunionsbank kletterte und den Altar einer riesigen und beeindruckenden Kirche wie St. Alphonsus beraubte. Nicht einmal die Straßenbengel, die Pater Mattingly als Junge gekannt hatte, hätten so etwas gewagt.
Was glaubte Schwester Bridget Marie wirklich, was geschehen war? Hatten die Kinder die Blumen tatsächlich gestohlen? Die kleine, stämmige, mondgesichtige Nonne betrachtete ihn einen Augenblick lang, bevor sie antwortete. Dann sagte sie: Nein.
»Pater, Gott ist mein Zeuge: Die Familie ist verflucht, diese Mayfairs. Die Großmutter dieses Mädchens, Stella war ihr Name, erzählte haargenau die gleichen Geschichten auf eben diesem Schulhof, vor vielen, vielen Jahren. Stella Mayfair hatte eine beängstigende Macht über die Menschen in ihrer Umgebung. Es gab Nonnen unter diesem Dach, die eine Todesangst davor hatten, ihren Ärger zu wecken. Eine Hexe nannten sie sie, damals wie heute.«
»Aberglaube, Schwester!« hatte er sie zurechtgewiesen. »Was ist denn mit der Mutter der kleinen Deirdre? Wollen Sie mir erzählen, daß sie auch eine Hexe war?«
Schwester Bridget Marie schüttelte den Kopf. »Sie hieß Antha, ein verlorenes Kind, scheu, lieb, fürchtete sich vor dem eigenen Schatten – ganz und gar nicht wie ihre Mutter Stella. Das heißt, bis Stella umkam. Sie hätten Miss Carlottas Gesicht sehen sollen, als Stella begraben wurde. Und der gleiche Ausdruck zwölf Jahre später bei Anthas Beerdigung. Carl nun, die war das klügste Mädchen, das je beim Heiligen Herzen war. Das Rückgrat der Familie ist sie. Aber ihre Mutter hat nie einen Pfifferling auf sie gegeben. Mary Beth Mayfair interessierte sich immer nur für Stella. Und der alte Mr. Julien, Mary Beths Onkel, der war genauso. Stella, Stella, Stella. Aber Antha war am Ende völlig wahnsinnig, hieß es, und sie war gerade mal zwanzig Jahre alt, als sie die Treppe in dem alten Haus hinaufrannte und oben aus dem Dachbodenfenster sprang, daß ihr unten auf den Steinen der Kopf zerplatzte.«
»So jung«, flüsterte er. Er erinnerte sich an das blasse, verängstigte Gesicht der kleinen Deirdre Mayfair. Wie alt war sie gewesen, als die junge Mutter etwas so Schreckliches getan hatte?
»Sie haben Antha in geweihter Erde begraben – Gott sei ihrer Seele gnädig. Denn wer will den Geisteszustand eines solchen Menschen beurteilen? Ihr Kopf zersprang wie eine Wassermelone, als sie auf die Terrasse stürzte. Und das Baby, Deirdre, schrie sich in der Wiege die Lunge aus dem Leib. Und Anthas Anblick war wirklich furchterregend.«
Lautlos rasender Schwindel erfüllte Pater Mattingly. Genau diese Reden hatte er sein Leben lang zu Hause gehört, diese endlose irische Dramatisierung des Morbiden, den lustvollen Tribut an das Tragische. Tatsächlich ermüdete es ihn nur. Er wollte fragen…
Doch da klingelte es. Die Kinder stellten sich ordentlich in Reih und Glied auf, um hereinzumarschieren. Die Schwester mußte gehen. Aber plötzlich drehte sie sich noch einmal um.
»Ich will Ihnen eine Geschichte von Antha erzählen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, denn auf dem Schulhof war es still geworden. »Es ist die beste, die ich kenne. Wenn sich damals die Schwestern um zwölf Uhr mittags zu Tisch setzten, dann schwiegen die Kinder hier auf dem Hof, bis das Angelus und das Tischgebet gesprochen waren. Heutzutage hat niemand mehr Respekt vor irgend etwas, aber damals war es so Sitte. Und eines schönen Tages im Frühling, als wieder alles still war, kommt ein gemeines, böses Mädchen namens Jenny Simpson herangeschlichen und erschreckt die arme, scheue, kleine Antha mit dem Kadaver einer toten Ratte, den sie unter der Hecke gefunden hat. Antha wirft nur einen Blick auf die tote Ratte und fängt an zu schreien, daß einem das Mark gefriert – Pater, einen solchen Schrei haben Sie noch nie gehört! Wir kommen vom Eßtisch herbeigerannt, wie Sie sich vorstellen können, und was sehen wir? Die gemeine, böse Jenny Simpson liegt rücklings auf dem Boden, Pater, das Gesicht blutüberströmt, und die Ratte fliegt ihr aus der Hand und über diesen Zaun! Glauben Sie, die kleine Antha hätte so etwas geschafft? Ein Kind wie ein Vögelchen, so zierlich wie ihre Tochter Deirdre heute? O nein. Es war derselbe unsichtbare Dämon wie heute, Pater. Es war der Teufel selbst, der vor einer Woche hier
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