Hexenstunde
ihr Mund sich bewegte und die Lippen sich wieder schlossen, ehe er die Worte hörte.
»Nichts«, sagte er und lehnte sich zurück. »Nichts. Kein Elend, keine Trauer, keine Krankheit, überhaupt nichts.« Und in gewisser Weise war das absolut wahr.
»Oh, Sie sind ein Schatz«, sagte sie, aufrichtig und mit verdutzter Miene, und dann stieß sie auf ihn herab und gab ihm einen Kuß. »Wo um alles in der Welt hast du diesen Menschen aufgetrieben?« fragte sie Rowan, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich hab’ euch alle beide gern! Und das ist besser, als euch zu lieben, denn das wird ja schließlich von einem erwartet, nicht wahr? Aber auch gern zu haben – was für eine merkwürdige Überraschung! Ihr seid wirklich ein ganz anbetungswürdiges Paar, ihr beide – Sie mit Ihren blauen Augen, Michael, und Rowan mit ihrer hinreißenden sanften Stimme!«
»Darf ich Sie auf die Wange küssen, Beatrice?« erkundigte er sich zärtlich.
»Cousine Beatrice für dich, du umwerfendes Stück Mann!« erklärte sie und klopfte sich theatralisch mit der flachen Hand auf den wogenden Busen. »Los!« Sie schloß fest die Augen und klappte sie dann mit dramatischem, strahlendem Lächeln wieder auf.
Rowan sah den beiden zu und lächelte ein wenig versonnen und geistes abwesend. Es war an der Zeit, daß Beatrice mit ihr in die Stadt und zu Ryan in die Firma fuhr. Endlose Rechtsangelegenheiten. Wie greulich. Und weg waren sie.
Er merkte, daß der schwarze Lederhandschuh ins Gras gefallen war. Er hob ihn auf und zog ihn an.
Nicht eine von ihnen…
Aber wer hatte das gesagt? Wer hatte diese Information offenbart und übermittelt? Aber vielleicht wurde er nur einfach besser, vielleicht lernte er, die richtigen Fragen zu stellen, wie Aaron es ihn hatte lehren wollen.
Langsam blickte er auf. Da stand doch jemand im tiefen Schatten auf der Seitenveranda und beobachtete ihn. Aber er sah nichts. Die Maler arbeiteten an den Eisengittern. Die Veranda sah prächtig aus, nachdem jetzt die alten Fliegengitter abgerissen und die behelfsmäßigen Holzgeländer entfernt worden waren. Sie bildete gleichsam eine Brücke zwischen dem langgestreckten großen Salon und dem Rasen.
Und hier werden wir heiraten, dachte er verträumt. Und wie zur Antwort begannen die großen Myrten im Wind zu tanzen, und ihre hellrosa Blüten schwankten anmutig vor dem blauen Himmel.
Als er am Nachmittag ins Hotel kam, erwartete ihn ein Umschlag von Aaron. Er riß ihn auf, noch ehe er in seiner Suite angekommen war. Sowie er die Tür vor der Welt geschlossen hatte, zog er eine dicke Hochglanzphotographie heraus und hielt sie ins Licht.
Eine hübsche dunkelhaarige Frau schaute ihn an, aus der von Rembrandt gesponnenen göttlichen Düsternis – und sie war lebendig und lächelte dasselbe Lächeln, das er eben noch auf Rowans Lippen gesehen hatte. Der Mayfair-Smaragd schimmerte in diesem meisterlichen Zwielicht. So schmerzlich real war die Illusion, daß er das Gefühl hatte, die Pappe mit dem Photo könnte zerschmelzen und das Gesicht, durchscheinend wie ein Geist, in der Luft schwebend zurücklassen.
Aber war das seine Deborah, die Frau, die er in den Visionen gesehen hatte? Er wußte es nicht. Kein Schock des Wiedererkennens durchfuhr ihn, mochte er das Bild noch so lange betrachten.
»Was willst du von mir?« flüsterte er.
Aus tiefer Unschuld, aus den Tiefen der Zeit, lächelte das dunkelhaarige Mädchen ihn an. Eine Fremde. Für allezeit eingefangen in ihrer kurzen, verzweifelten Kindheit. Eine flügge werdende Hexe, nichts weiter.
Aber jemand hatte ihm etwas gesagt, heute nachmittag, als Beatrice seine Hand berührt hatte! Jemand hatte sein Talent zu irgend einem Zweck benutzt. Oder war es nur seine eigene innere Stimme gewesen?
Er legte die Handschuhe beiseite, wie er es sich inzwischen angewohnt hatte, wenn er hier allein war, griff zu Stift und Notizbuch und begann zu schreiben.
»Ja, es war ein kleiner konstruktiver Einsatz meiner Gabe, glaube ich. Denn die Bilder waren der Botschaft untergeordnet. Ich bin nicht sicher, daß das schon einmal passiert ist, nicht einmal an dem Tag, als ich die Gläser berührte. Da waren Bilder und Botschaften vermischt, und Lasher sprach direkt mit mir, aber es war alles miteinander vermengt. Heute war es völlig anders.«
Und wenn er nun heute abend beim Essen Ryans Hand berührte, wenn sie unten im »Caribbean Room« bei Kerzenschein um den runden Tisch versammelt wären? Was würde die innere
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