Hexenstunde
Petyr. Er stand am Fußende des Tisches. »Nimm ihn ab, Rowan. Du trägst ihn um den Hals. Nimm ihn ab!«
Den Smaragd?
Sie schlug die Augen auf. Der Traum verlor seine Spannkraft wie ein straffer Seidenschleier, der sich plötzlich flatternd losreißt. Die Dunkelheit schien lebendig ringsumher.
Ganz langsam erhellten sich vertraute Gegenstände. Die Schranktüren, der Tisch am Bett, Michael, ihr geliebter Michael, der neben ihr schlief.
Sie spürte etwas Kaltes auf ihrer nackten Brust, spürte den Gegenstand in ihren Haaren, und sie wußte, was es war.
»O Gott!« Sie schlug die linke Hand vor den Mund, aber den kurzen Aufschrei konnte sie nicht mehr zurückhalten, und mit der Rechten riß sie sich das Ding vom Hals wie ein widerliches Insekt.
Vorn über gebeugt saß sie im Bett und starrte in ihre Hand. Wie ein grüner Blutstropfen… Der Atem blieb ihr im Halse stecken. Sie sah, daß sie die alte Kette zerrissen hatte. Ihre Hand zitterte unbeherrscht.
Hatte Michael ihren Aufschrei gehört? Er rührte sich nicht einmal, als sie sich an ihn lehnte.
»Lasher!« wisperte sie, und ihre Augen bewegten sich hin und her, als könne sie ihn irgendwo im Dunkeln entdecken. »Willst du mich zwingen, dich zu hassen!« Ihre Worte waren ein bloßes Zischen. Für eine Sekunde war der Traum wieder lebendig, als habe sich der Schleier noch einmal gesenkt. Die Ärzte verließen den Tisch.
»Geschafft, Rowan. Hervorragend, Rowan.«
»Eine neue Ära, Rowan.«
»Ganz einfach wunderbar, meine Liebe«, sagte Lemle.
»Wirf ihn weg, Rowan«, sagte Petyr.
Sie schleuderte den Smaragd über das Fußende. Irgendwo im kleinen Korridor fiel er mit einem stumpfen, ohnmächtigen kleinen Geräusch auf den Teppich.
Sie schlug die Hände vors Gesicht, und dann betastete sie fieberhaft ihren Hals und ihre Brüste, als habe das verfluchte Ding eine Schicht Staub oder Schmiere auf ihr hinterlassen.
»Ich hasse dich dafür«, zischte sie in die Dunkelheit. »Ist es das, was du willst?«
Weit hinten hörte sie ein Seufzen, ein Rascheln. Durch die hintere Korridortür konnte sie gerade noch die Gardinen im Wohnzimmer vor dem Lichtschein der Straße erkennen; sie bewegten sich, als wehten sie in einem leisen Luftzug, und das war das Geräusch, das sie gehört hatte, oder?
Das und der langsam gemessene Gesang von Michaels Atem. Sie kam sich albern vor, weil sie den Stein weg geworfen hatte. Mit angezogenen Knien, die Hände vor den Mund gedrückt, starrte sie in die Dunkelheit.
Warum hast du solche Angst?
Sie stand auf, zog ihren Bademantel an und ging barfuß in den Korridor. Michael schlief ungestört im Bett weiter.
Sie hob den Edelstein auf und wickelte sorgfältig die beiden Enden der zerrissenen Kette um ihn herum. Es kam ihr furchtbar vor, daß sie diese zarten, antiken Glieder zerrissen hatte.
»Aber es war dumm von dir, das zu tun«, flüsterte sie. »Jetzt werde ich ihn nie mehr anlegen. Nicht freiwillig.«
Mit einem leisen Knarren der Sprungfedern drehte Michael sich im Bett um. Hatte er etwas geflüstert? Ihren Namen vielleicht?
Lautlos schlich sie zurück ins Schlafzimmer; dort sank sie auf die Knie, wühlte ihre Handtasche aus einer Ecke des Schrankes und stopfte den Smaragd mit der Kette in ein seitliches Reißverschlußfach.
Sie zitterte nicht mehr. Aber auf alchimistischem Weg hatte ihre Angst sich restlos in Wut verwandelt. Und sie wußte, sie konnte jetzt nicht mehr schlafen.
Als die Sonne aufging, saß sie allein im Wohnzimmer und dachte an all die alten Porträts im Haus – die, die sie durchgesehen, saubergewischt und für das Aufhängen vorbereitet hatte, die ganz alten, die sie noch identifizieren konnte, auch wenn niemand sonst in der Familie mehr wußte, wen sie darstellten. Charlotte mit ihrem blonden Haar, so stark verblaßt unter dem Firnis, daß sie aussah wie ein Gespenst. Jeanne Louise, mit ihrem Zwillingsbruder hinter sich. Und die grauhaarige Marie Claudette, hinter der im Bild ein kleines Gemälde von Riverbend an der Wand hing.
Alle trugen sie den Smaragd. So viele Bilder von einem einzigen Juwel… Sie schloß die Augen und döste auf der Samtcouch; sie sehnte sich nach Kaffee, aber sie war noch zu schläfrig, um welchen zu kochen. Sie hatte geträumt, bevor die Sache passiert war; aber was war es gewesen? Es hatte mit dem Krankenhaus zu tun und mit einer Operation, und jetzt konnte sie sich nicht mehr erinnern. Lemle war dagewesen. Lemle, den sie so sehr haßte…
Und die Iris mit dem
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