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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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grauenvoller Anfang. Aber das stimmte nicht ganz. Noch war sie nett zu ihm; er hatte also noch nicht alles verdorben. Und er konnte das Bier schon schmecken. Mit etwas anderem würde er seinen Magen nicht beruhigen.
    Die Musik aus den nahen Kneipen dröhnte plötzlich zu laut, und die Farben der Straße waren zu lebhaft. Die jungen Passanten kamen dem Auto zu nahe. Das hast du davon, wenn du dich dreieinhalb Monate isolierst, dachte er. Du bist wie einer, der aus dem Knast kommt.
    Ja, er wußte ja nicht einmal, was für ein Tag heute war – außer daß es Freitag war, weil sein Flugzeug am Samstag früh um sechs Uhr ging. Er fragte sich, ob er in diesem Auto würde rauchen dürfen.
    Kaum hatte sie ihm die Tüte auf den Schoß gestellt, machte er sie auf.
    »Das gibt einen Fünfzig-Dollar-Strafzettel, Mr. Curry«, sagte sie und fuhr los. »Eine offene Bierdose im Auto.«
    »Yeah. Na, wenn Sie einen kriegen, bezahle ich ihn.« Er leerte mit dem ersten Schluck die halbe Dose. Für einen Augenblick ging es ihm wieder gut.
    Sie fuhr über die breite, sechsspurige Kreuzung an der Market Street, bog verbotenerweise nach links in die 17th Street und schoß bergauf.
    »Das Bier macht es erträglicher, ja?« fragte sie.
    »Nein, nichts macht es erträglicher«, antwortete er. »Es strömt von allen Seiten auf mich ein.«
    »Von mir auch?«
    »Nein, von Ihnen nicht. Aber bei Ihnen möchte ich auch sein, wissen Sie.« Er trank einen Schluck und stützte sich mit ausgestrecktem Arm gegen das Armaturenbrett, als sie abwärts in Richtung Haight bog. »Ich neige nicht von Natur aus zum Klagen, Dr. Mayfair. Es ist nur, daß ich mein Leben seit dem Unfall ohne schützende Haut lebe. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich kann nicht mal mehr lesen oder schlafen.«
    »Ich verstehe, Mr. Curry. Wenn wir bei mir zu Hause sind, können Sie aufs Boot und tun und lassen, was Sie wollen. Aber ich wäre wirklich froh, wenn ich Ihnen etwas zu Essen machen könnte.«
    »Das wird nichts nützen, Dr. Mayfair. Ich muß Sie etwas fragen: Wie tot war ich, als Sie mich auffischten?«
    »Absolut und klinisch tot, Mr. Curry. Keine erkennbaren Lebenszeichen. Ohne irgendeine Intervention hätte nach kürzester Zeit der irreversible biologische Tod eingesetzt. Sie haben meinen Brief nicht bekommen, wie?«
    »Sie haben mir geschrieben?«
    »Ich hätte ins Krankenhaus kommen sollen«, sagte sie.
    Sie fuhr wie eine Rennfahrerin, dachte er, nutzte jeden Gang aus, bis der Motor brüllte, ehe sie in den nächsten schaltete. »Aber ich habe nichts zu Ihnen gesagt«, fuhr er fort. »Das haben Sie wenigstens Dr. Morris erzählt…«
    »Sie sagten einen Namen, ein Wort, irgend etwas. Aber es war nur gemurmelt. Ich konnte keine Silben unterscheiden. Ein L habe ich erkannt…«
    Ein L… Eine gewaltige Stille ertränkte den Rest ihrer Worte. Er fiel. Einerseits wußte er, daß er im Auto saß und daß sie mit ihm sprach, daß sie die Lincoln Avenue überquert hatten und durch den Golden Gate Park auf den Park Presidio Drive zufuhren, aber eigentlich war er nicht da. Er war an der Grenze eines Traumraumes, wo das Wort mit L etwas Entscheidendes zu bedeuten hatte, etwas extrem Komplexes und Vertrautes. Ein Schwarm von Wesen umgab ihn, drängte sich an ihn, bereit zum Sprechen. Die Pforte…
    Er schüttelte den Kopf. Konzentriere dich. Aber es löste sich schon auf. Er spürte Panik in sich hochsteigen.
    Als sie an der Geary Street vor einer Ampel bremste, wurde er in die Polster zurückgeworfen.
    »Sie operieren die Gehirne der Leute aber nicht so, wie Sie diesen Wagen fahren, oder?« fragte er. Sein Gesicht fühlte sich heiß an.
    »Doch, ehrlich gesagt, das tue ich.« Als die Ampel grün wurde, fuhr sie ein wenig langsamer an.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er wieder. »Anscheinend stecke ich voller Entschuldigungen. Seit es passiert ist, entschuldige ich mich andauernd bei den Leuten. An Ihrer Fahrweise ist nichts auszusetzen. Es liegt an mir. Ich war völlig… normal, vor diesem Unfall. Ich meine, einer von diesen glücklichen Menschen, wissen Sie…«
    Nickte sie?
    Sie erschien abgelenkt, als er sie anschaute, in ihre eigenen Gedanken versunken. Der Nebel hing so dick über der Brücke, daß der Verkehr darin zu verschwinden schien.
    »Möchten Sie mit mir reden?« fragte sie und wandte den Blick nicht von dem Verkehr, der vor ihr im Nebel verschwand. »Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?«
    Er seufzte. Das war eine schier unmögliche Aufgabe. Aber das

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