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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Er hätte schwören können, er sei schon in New Orleans. Ihm war schwindlig. Er war mitten in etwas gewesen, und es war eine sehr angenehme, intensive Empfindung gewesen. Und jetzt war hier nur noch die klamme Kühle, der schwer verhangene Himmel, das machtvolle Wissen, daß all die Jahre des Wartens jetzt zu Ende waren, daß etwas, worauf er vorbereitet worden war, jetzt beginnen würde.
    Er merkte, daß er Dr. Mayfair anstarrte. Sie war fast so groß wie er, und sie schaute ihn unverwandt und völlig unbefangen an. Sie schaute ihn an, als mache es ihr Spaß, als finde sie ihn gutaussehend oder interessant oder sogar beides. Er lächelte, weil es ihm plötzlich ebenfalls gefiel, sie anzusehen, und weil er so froh war – froher, als er ihr zu sagen wagte -, daß sie gekommen war.
    Sie nahm seinen Arm.
    »Kommen Sie, Mr. Curry.« Noch einmal schaute sie den Engländer in der Ferne an, lange und beinahe hart, und dann schleppte sie Michael die Straße hinauf zu einem dunkelgrünen Jaguar. Sie schloß die Tür auf, nahm Michael den Koffer ab, ehe er sich besonnen hatte, und wuchtete ihn auf den Rücksitz.
    »Einsteigen«, sagte sie und schlug dann die Tür zu.
    Karamelfarbenes Leder. Ein wunderschönes, altmodisches Armaturenbrett aus Holz. Michael sah sich um. Der Engländer wartete noch immer.
    »Merkwürdig«, sagte er.
    Sie hatte den Schlüssel im Zündschloß, noch ehe ihre Tür geschlossen war.
    »Was ist merkwürdig? Kennen Sie ihn?«
    »Nein, aber ich glaube, er ist hier, um mich zu besuchen… Ich glaube, er ist ein Engländer… und er hat sich überhaupt nicht gerührt, als ich herauskam.«
    Das erschreckte sie. Sie machte ein verwirrtes Gesicht, aber das hinderte sie nicht daran, aus der Parklücke heraus in ein waghalsiges Wendemanöver zu schleudern, ehe sie mit einem letzten, scharfen Blick an dem Engländer vorbeifuhr.
    »Ich könnte schwören, daß ich den Mann schon einmal gesehen habe«, sagte sie halb zu sich.
    Er lachte – nicht über das, was sie gerade gesagt hatte, sondern über die Art, wie sie fuhr, als sie jetzt blitzartig in eine Rechtskurve bog und durch den wehenden Nebel die Castro Street hinuntersauste.
    Er fühlte sich wie auf der Achterbahn. Er schnallte sich an, denn sonst wäre er durch die Windschutzscheibe geflogen, und als sie über das erste Stopschild hinwegdonnerte, merkte er, daß ihm schlecht wurde.
    »Sind Sie sicher, daß Sie nach New Orleans wollen, Mr. Curry?« fragte sie. »Sie sehen nicht aus, als fühlten Sie sich dazu in der Lage. Um wieviel Uhr geht Ihre Maschine?«
    »Ich muß nach New Orleans«, sagte er. »Ich muß nach Hause. Tut mir leid; ich weiß, daß es unverständlich klingt. Wissen Sie, es ist einfach irgend so ein Gefühl, und es kommt nach Belieben. Es ergreift Besitz von mir. Ich dachte, es wären nur die Hände, aber das stimmt nicht. Sie haben von meinen Händen gehört, Dr. Mayfair? Ich bin fertig, das sage ich Ihnen, absolut fertig. Hören Sie, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Da ist ein Schnapsladen hier oben, links, gleich hinter der achtzehnten Straße. Würden Sie da bitte anhalten?«
    »Mr. Curry…«
    »Dr. Mayfair, ich werde Ihnen Ihren ganzen prachtvollen Wagen vollkotzen.«
    Sie parkte dem Schnapsladen gegenüber auf der anderen Straßenseite. Die Castro Street wimmelte vom üblichen Freitagabend-Trubel, und aus den Kneipen leuchtete es einladend auf die nebelverhangene Straße hinaus.
    »Große Dosen«, sagte er. »Miller’s. Ein Sechserpack. Ich drehe sonst durch. Bitte?«
    »Soll ich etwa da hineingehen und Ihnen das Gift besorgen?« Sie lachte, aber es klang sanft, nicht schäbig. Ihre dunkle Stimme war wie Samt. Ihre Augen waren groß und jetzt im Neonlicht makellos grau, genau wie das Wasser dort draußen.
    »Nein, natürlich sollen Sie da nicht hineingehen«, sagte er. »Ich gehe schon. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Er schaute auf seine Lederhandschuhe. »Ich habe mich vor den Menschen versteckt. Meine Tante Viv hat alles für mich erledigt. Entschuldigen Sie.«
    »Miller’s also, sechs große Dosen«, sagte sie und öffnete ihre Tür.
    »Na ja, zwölf.«
    »Zwölf?«
    »Dr. Mayfair, es ist erst halb zwölf, und das Flugzeug geht um sechs.« Er wühlte in der Tasche nach seinem Banknotenclip.
    Sie winkte ab, überquerte anmutig die Straße, während sie einem Taxi auswich, und verschwand dann im Laden.
    Gott, ich habe vielleicht Nerven, sie um so was zu bitten, dachte er niedergeschlagen; was für ein

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