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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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brennend errötete. Er hätte sie verlockend und anziehend gefunden, wo immer er sie gesehen hätte. Aber zu wissen, daß sie die eine war, das war überwältigend. Er war dankbar, daß sie nicht zur Tür heraufschaute und vielleicht seinen Schatten hinter der Scheibe sah.
    Das ist die Frau, die mich zurückgeholt hat, dachte er, im wahrsten Sinne des Wortes; und ein unbestimmtes Kribbeln überkam ihn mit einer ungewohnten Hitze und mit dem rohen Gefühl der Unterwerfung, gepaart mit einem beinahe brutalen Verlangen danach, sie zu berühren, sie zu kennen, vielleicht zu besitzen. Der mechanische Vorgang seiner Errettung war ihm viele Male beschrieben worden: Mund-zu-Mund-Beatmung im Wechsel mit Herzmassage. Jetzt stellte er sich vor, wie ihre Hände ihn berührten, wie ihr Mund auf dem seinen lag. Es erschien ihm plötzlich brutal, daß sie nach soviel Intimität so lange getrennt gewesen waren.
    Selbst im Profil sah er undeutlich das Gesicht, an das er sich erinnerte, ein Gesicht mit straffer Haut, von subtiler Schönheit und mit tiefen, leise leuchtenden grauen Augen. Und wie betörend ihre Haltung wirkte, so unverhohlen lässig, ja, geradezu maskulin, wie sie da am Geländer lehnte, den einen Fuß auf die untere Treppe gestellt.
    Das Gefühl der Hilflosigkeit in ihm wurde seltsamerweise und überraschend immer stechender, und ebenso machtvoll erwachte der unausweichliche Drang nach Eroberung. Aber er hatte keine Zeit, das alles jetzt zu analysieren, und – offengesagt – auch keine Lust. Er wußte, daß er plötzlich glücklich war, zum erstenmal seit seinem Unfall glücklich.
    Ja, geh schon hinaus. Sprich mit ihr. Näher wirst du diesem Augenblick niemals kommen; dies ist deine Chance. Und wie köstlich, sich körperlich so von ihr angezogen zu fühlen, durch ihre Anwesenheit so entblößt zu werden.
    Rasch blickte er die Straße hinauf und hinunter. Nur ein einsamer Mann in einer Haustür- den Dr. Mayfair übrigens ziemlich starr anschaute -, und der war bestimmt kein Reporter, nicht dieser weißhaarige alte Knabe dort drüben in seinem dreiteiligen Anzug, der seinen Schirm umfaßt hielt wie einen Spazierstock.
    Aber es war doch merkwürdig, wie Dr. Mayfair den Mann immerfort anstarrte und wie dieser zurückschaute. Beide rührten sich nicht, als sei dies etwas völlig Normales, was es natürlich nicht war.
    Etwas, das Tante Viv vor Stunden gesagt hatte, fiel ihm ein, etwas von einem Engländer, der tatsächlich von London hergekommen sei, um ihn zu besuchen. Und wie ein Engländer sah der Mann jedenfalls aus, wie ein sehr unglücklicher noch dazu, der eine weite Reise umsonst gemacht hatte.
    Michael drehte den Türknopf. Der Engländer traf keine Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, wenngleich er Michael jetzt ebenso intensiv anstarrte wie zuvor Dr. Mayfair. Michael trat hinaus und schloß die Tür.
    Dann vergaß er den Engländer. Denn Dr. Mayfair drehte sich um, und ein reizendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Blitzartig erkannte er die wunderschön geschwungenen, aschblonden Augenbrauen und die dichten, dunklen Wimpern wieder, die ihre grauen Augen um so strahlender erscheinen ließen.
    »Mr. Curry«, sagte sie mit einer dunklen, rauchigen, vollkommen hinreißenden Stimme. »Wir treffen uns also wieder.« Sie streckte zur Begrüßung die schmale Rechte aus, als er die Treppe herunter auf sie zukam und musterte ihn.
    »Dr. Mayfair, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er und drückte ihr die Hand; aber sofort ließ er sie wieder los, denn er schämte sich wegen der Handschuhe. »Sie haben mich schon wieder zum Leben erweckt. Ich lag da oben im Sterben.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Und diesen Koffer haben Sie mitgebracht, weil wir uns ineinander verlieben und von jetzt an zusammenwohnen werden?«
    Er lachte. Ihre rauchige Stimme hatte ihn vollkommen in seinen Bann geschlagen. Es war etwas, was er bei Frauen anbetungswürdig fand – nur so selten und immer voller Magie. Vom Bootsdeck her war ihm dieser kleine Aspekt nicht in Erinnerung geblieben.
    »O nein, tut mir leid, Dr. Mayfair«, sagte er. »Ich meine… aber ich muß nachher zum Flughafen. Um sechs Uhr früh geht meine Maschine nach New Orleans. Ich muß. Ich dachte mir, ich nehme mir von dort ein Taxi, ich meine, wo immer wir jetzt hinfahren, denn wenn ich danach noch einmal nach Hause fahre…« Einen Moment lang hatte er das unbestimmte Gefühl, den Faden zu verlieren. »Entschuldigung«, sagte er leise. Er hatte den Faden verloren.

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