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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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war. »Deshalb also die Geheimniskrämerei«, hatte er zu Morris gesagt. »Wir Ärzte belästigen uns nicht gegenseitig, was? Wir rücken keine Privatnummern heraus. Wissen Sie, das sollte man eigentlich öffentlich bekanntmachen. Ich sollte…«
    Aber Morris hatte ihn rasch zum Schweigen gebracht.
    »Michael, diese Lady kommt her, um Sie abzuholen. Sie weiß, daß Sie betrunken sind, und sie weiß, daß Sie verrückt sind. Trotzdem nimmt sie Sie mit zu sich nach Hause nach Tiburon, und sie sagt, Sie dürfen auch auf ihrem Boot herumkriechen.«
    »Schon gut. Ich bin ja dankbar. Das wissen Sie.«
    »Dann stehen Sie jetzt auf, duschen Sie und rasieren Sie sich.«
    Gemacht! Und jetzt würde ihn nichts mehr davon abhalten, diese Reise zu unternehmen; er würde vom Haus der Lady in Tiburon geradewegs zum Flughafen fahren, wo er bis zum Abflug auf einem Plastikstuhl dösen würde, wenn es sein müßte.
    »Ich bleibe nicht lange; das verspreche ich dir«, sagte er zärtlich zu seiner Tante. Aber plötzlich erfaßte ihn eine dunkle Ahnung. Er hatte das deutliche Gefühl, daß er nie wieder in diesem Haus wohnen würde. Nein, das konnte nicht stimmen. Das war der Alkohol, der in ihm rumorte, ihn verrückt machte, die Monate der totalen Isolation – ja, das reichte, um jeden verrückt zu machen. Er küßte sie auf die weiche Wange.
    »Ich muß meinen Koffer noch mal durchsehen«, sagte er und nahm noch einen Schluck Kaffee. Es ging ihm schon besser. Er polierte sorgfältig seine Hornbrille, setzte sie auf und tastete nach der Ersatzbrille in seiner Tasche.
    »Ich habe alles eingepackt«, sagte Tante Viv mit leisem Kopfschütteln. Sie stand neben ihm vor dem offenen Koffer und deutete mit einem knotigen Finger auf die ordentlich zusammengelegten Kleidungsstücke. »Deine leichten Anzüge, alle beide, dein Rasierzeug. Alles da. Ach, und dein Regenmantel. Vergiß deinen Regenmantel nicht, Michael. In New Orleans regnet es immer.«
    »Hab’ ihn, Tante Viv; keine Sorge.« Er klappte den Koffer zu und ließ die Schlösser einschnappen. Überflüssig, ihr zu sagen, daß der Regenmantel verdorben war, weil er darin ertrunken war. Der berühmte Burberry war vielleicht für den Schützengraben gemacht, aber nicht zum Ertrinken. Das Wollfutter war völlig hinüber.
    Er zog den Kamm durchs Haar, und das Gefühl der Handschuhe war ihm zuwider. Betrunken sah er nicht aus – es sei denn, er wäre zu betrunken, um es zu sehen. Er warf einen Blick auf den Kaffee. Trink den Rest, du Idiot. Diese Frau macht einen Hausbesuch, nur um einem Spinner gefällig zu sein. Das Mindeste, was du da tun kannst, ist, daß du nicht deine eigene Haustürtreppe hinunterfliegst.
    »Hat es geklingelt?« Er hob den Koffer auf. Ja, er war bereit, durchaus bereit, von hier zu verschwinden.
    Und dann war da wieder dieses Gefühl. Was war es – eine Vorahnung? Er betrachtete das Zimmer: die gestreifte Tapete, das schimmernde Holzwerk, das er selbst so geduldig abgebeizt und lackiert hatte, den kleinen Kamin, den er eigenhändig mit spanischen Kacheln verkleidet hatte. Nie wieder würde er sich daran erfreuen. Nie wieder würde er in diesem Messingbett liegen. Oder zwischen den pongéseidenen Vorhängen hindurch auf die fernen Phantomlichter der City blicken.
    Tante Viv eilte den Gang hinunter, die Fußknöchel schmerzhaft geschwollen. Ihre Hand tastete nach dem Kopf der Sprechanlage, fand ihn, drückte ihn.
    »Ja bitte?«
    »Ich bin Dr. Rowan Mayfair. Ich möchte zu Michael Curry.«
    Gott, es war soweit. Er stand noch einmal von den Toten auf. »Ich bin gleich da!« rief er.
    Dann lief er die beiden Treppen hinunter, und dabei pfiff er leise, so gut tat es, sich zu bewegen, unterwegs zu sein. Fast hätte er die Tür geöffnet, ohne nach Reportern Ausschau zu halten, aber dann hielt er inne und spähte durch einen kleinen runden, geschliffenen Kristall in der Mitte des rechteckigen Buntglasfensters.
    Eine Frau, groß und schlank wie eine Gazelle, stand unten vor der Treppe. Sie hatte ihm das Profil zugewandt und schaute die Straße hinunter. Ihre langen Beine steckten in Bluejeans, und eine wellige, blonde Pagenfrisur wehte sanft an der Mulde ihrer Wange.
    Jung und frisch sah sie aus, und auf einladende Weise verführerisch in ihrer enganliegenden, taillierten marineblauen Jacke, die sie über einem dicken Rollkragenpullover trug.
    Niemand brauchte ihm zu sagen, daß sie Dr. Mayfair war. Plötzliche Wärme erwachte in seinen Lenden und durchströmte ihn, daß er

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