Hexenstunde
weiß, was du bist«, unterbrach er sie. »Eine sehr starke Person, für die jedes Eingeständnis, etwas zu brauchen, ganz schrecklich ist.«
Schweigen. Sie nickte. »Wenn das nur alles wäre«, sagte sie. Tränen flossen über.
»Sprich mit mir. Erzähl mir die Geschichte«, sagte er.
Sie entglitt seinen Armen und stand auf. Barfuß ging sie auf und ab, anscheinend ohne zu merken, wie kalt die Dielen waren. Und wieder sprudelte es nur so aus ihr heraus, so viele lange, zierliche Sätze strömten mit solcher Geschwindigkeit aus ihrem Mund, daß er Mühe hatte, zu folgen und ihre Bedeutung von der betörenden Schönheit ihrer Stimme zu trennen.
Sie sei einen Tag nach ihrer Geburt adoptiert und von zu Hause weggebracht worden, und ob er wisse, daß es New Orleans gewesen war? Das habe sie ihm in dem Brief erzählt, den er nie bekommen hatte. Und jawohl, er sollte es wissen, denn beim Aufwachen habe er ihre Hand ergriffen und sie festgehalten, als wolle er nie wieder loslassen. Und vielleicht war dann irgendeine verworrene Idee von ihr zu ihm durchgedrungen, irgendeine jähe, intensive Empfindung, die mit dieser Stadt verbunden war. Aber der springende Punkt war: Sie war eigentlich nie dort gewesen! Hatte die Stadt nie gesehen. Kannte nicht einmal den vollen Namen ihrer Mutter.
Man hatte sie gleich am Tag ihrer Geburt mit der Sechs-Uhr-Maschine von New Orleans nach Los Angeles gebracht. Ja, jahrelang hatte man ihr erzählt, sie sei in Los Angeles geboren. So stand es auch auf ihrer Geburtsurkunde, einer von diesen gefälschten Bescheinigungen, die man für Adoptivkinder zusammenbastelte. Ellie und Graham hatten ihr tausendmal von dem kleinen Apartment in West Hollywood erzählt, und wie glücklich sie gewesen waren.
Aber darum ging es nicht. Es ging darum, daß sie fort waren, tot, und mit ihnen die ganze Geschichte – ausgelöscht mit einer Geschwindigkeit und Totalität, die sie in Angst und Schrecken versetzte. Ein großartiges, modernes Leben hatten sie geführt, einfach großartig, wenngleich es eine selbstsüchtige, materialistische Welt gewesen war, das mußte sie zugeben. Keine Bindung an irgend jemanden – Familie oder Freunde – hatte je ihr egozentrisches Genußstreben gestört. Und am Krankenbett war dann auch niemand außer Rowan gewesen, als Ellie nach Morphium geschrien hatte.
»Ich sage dir, ich hätte sie beinahe umgebracht«, sagte sie. »Ich hätte es fast beendet. Ich konnte nicht… konnte nicht… Niemand konnte mich belügen. Ich merke es, wenn Leute lügen. Aber sie haben es auch gar nicht erst versucht, ich bin ja Ärztin, ich hatte vollen Zugang zu allen Informationen. Und da war noch diese andere Sache, dieses Talent, ich nenne es meinen diagnostischen Sinn, aber es ist mehr als das. Ich habe meine Hände auf sie gelegt, und selbst als sich ihr Zustand vorübergehend besserte, wußte ich Bescheid: Es ist da drinnen› und es kommt zurück. Sie hat höchstens noch sechs Monate. Und dann nach Hause zu kommen, als alles vorbei war – in dieses Haus, dieses Haus mit jeder nur vorstellbaren Maschine und Bequemlichkeit und mit allem Luxus, den man sich nur…«
»Ich weiß schon«, sagte er leise. »Mit all den Spielsachen, die wir haben, all dem Geld.«
»Ja. Und was ist das jetzt, ohne sie? Eine leere Hülse? Ich gehöre nicht hierher! Und wenn ich nicht hierher gehöre, dann tut es niemand, und ich schaue mich um und… und ich habe Angst, das sage ich dir. Nein, warte, du brauchst mich nicht zu trösten. Du weißt nichts. Ich konnte Ellies Tod nicht verhindern; damit kann ich mich abfinden. Aber ich habe Grahams Tod verursacht. Ich habe ihn ermordet.«
»Aber das hast du nicht getan«, sagte er. »Du bist Ärztin, und du weißt…«
»Michael, du bist wie ein Engel, den mir der Himmel schickt. Aber hör mir zu. Du hast eine Kraft in deinen Händen, von der du weißt, daß sie real ist. Auf der Fahrt hierher hast du diese Kraft demonstriert. Nun, und ich habe etwas in mir, das genauso stark ist. Ich habe ihn getötet. Davor habe ich schon zwei andere Menschen getötet – einen fremden Mann und vor Jahren, ein kleines Mädchen auf einem Spielplatz. Ich habe die Autopsieberichte gelesen. Ich kann töten, ich sage es dir! Ich bin jetzt Ärztin, weil ich versuche, diese Fähigkeit zu neutralisieren. Ich habe mein Leben darauf ausgerichtet, dieses Unheil auszugleichen!«
Sie holte tief Luft und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Sie sah hilflos und verloren aus in ihrem großen,
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