Hexensturm
Ich wollte nur noch, dass alles aufhörte. Ganz gleich mit welchem Ausgang, es sollte endlich vorbei sein. Ich hatte es satt, mich gegen Hyto zu wehren und mich jedes Mal zu fürchten, wenn ich mich umschaute. Ich hatte die Schmerzen satt und die Drohungen und das Wissen, dass er willens war, jedes einzelne seiner grausigen Versprechen wahr zu machen.
»Genug«, flüsterte ich. »Mondmutter, es ist genug. Wenn du mich zu dir holen möchtest, dann tu es jetzt. Aber ich bitte dich, verschone Smoky und seine Mutter und schleudere Hyto in den Schlund der Hölle.«
Nach einem weiteren ohrenbetäubenden Rumpeln lichtete sich auf einmal der Staub, und ich fiel zu Boden. Ich öffnete die Augen und sah Hyto schreien – hören konnte ich ihn nicht, denn noch immer krachte Geröll herunter. Aber die lange Haarsträhne, die mich festgehalten hatte, lag auf dem Boden, dicht am Kopf abgetrennt. Ich starrte auf die Blutstropfen, die aus den Schnittstellen quollen. Neben ihm stand Vishana, von deren langen Klauen ebenfalls Blut triefte.
Ich flüsterte dem Horn zu: »Ruhig, bitte … beruhige die Erde.« Und das Beben erlahmte. Als ich mich zerschlagen und zerschrammt wieder aufrappelte, wühlte Smoky sich gerade aus einem anderen Geröllhaufen. Er eilte zu mir und zog mich an sich, doch ich schob ihn von mir.
»Wir sind noch nicht fertig«, sagte ich und wies mit einem Nicken auf Hyto.
Vishana wandte sich ebenfalls wieder dem weißen Drachen zu, der aufzustehen versuchte. Sie hob einen anmutigen Arm und versetzte ihm mit dem Handrücken eine Ohrfeige, die eine lange Schnittwunde in seiner Wange hinterließ. Fluchend taumelte er rückwärts gegen die Felswand. Ein großer Stalaktit, der lose an einem Haufen Schutt gelehnt hatte, kippte um und fiel quer auf seine Beine. Er war unter tonnenschwerem Gestein gefangen und hatte keinen Platz, um seine Drachengestalt anzunehmen.
Smoky trat vor, doch seine Mutter hob die Hand. »Dein Vater hat sein Leben verwirkt. Doch da ich nun einmal hier bin, habe ich das letzte Wort. Diese Angelegenheit wird in den Drachenreichen beendet. Nimm deine Frau mit dir, ich übernehme Hyto. Wir treffen uns im Ratssaal. Camille hat das erste Anrecht auf seine Bestrafung.«
Anrecht auf Bestrafung? Was sollte das heißen? Ich wollte gerade fragen, als Smoky gehorsam den Kopf senkte.
»Wie Ihr wünscht, Mutter.« Vorsichtig hob er mich auf die Arme, Vishana packte Hyto am Arm und verschwand mit dem geschlagenen Drachen.
Ich schlang die Arme um Smokys Hals. »Ich verstehe das nicht – was ist hier los? Wo gehen wir hin?«
»Du wirst jetzt mein Volk kennenlernen, Liebste. Wir gehen nach Hause. In die Drachenreiche.« Und ehe ich noch ein Wort sagen konnte, begann die Welt sich schon wieder zu drehen, und ich wurde in den Armen meines geliebten Smoky über das Ionysische Meer davongewirbelt.
Der Saal war größer, als ich ihn mir je hätte ausmalen können. Man stelle sich ein Amphitheater vor, das Platz genug für mehrere Reihen Drachen bietet – in ihrer natürlichen Gestalt. Davor noch eine Art gigantischer Pavillon, von dem aus der Schwingenfürst und der Rat die Versammlung leiteten, wie Smoky mir erklärte. Die breiten Sitzreihen für die Drachen waren aus einem Stein gefertigt, der mich an Marmor erinnerte. Eine gesamte Wand fehlte, der Saal war dort zum Himmel hin offen, und mir wurde klar, dass die anfliegenden Drachen dort landen würden, auf dem weiten Platz, der sich vor dem Pavillon erstreckte. Der Himmel war blassblau, und bauschige Wolken zogen über ihn hinweg. Es war kalt, aber nicht so eiskalt wie in den Nordlanden, und ich fragte mich, zu welcher Welt genau die Drachenreiche eigentlich gehörten.
Als wir mitten im Saal erschienen, gab es einen kleinen Aufruhr, und einige Drachen – manche in menschlicher, andere in ihrer eigentlichen Gestalt – starrten uns an.
Vishana trat vor. »Deinem Vater sind vorerst die Schwingen gebunden. Aber ich habe mit dem Ratsfürsten gesprochen, und er hat bereits zugestimmt: Hyto muss sterben. Die Frage ist nur, wer das Anrecht auf die erste Strafe erhält. Wir kommen in zwei Stunden hier zusammen. Ihr habt also ein wenig Zeit, euch auszuruhen. Camille, ich nehme an, du würdest gern baden – in der Höhle war es sehr staubig, und dein Volk besitzt nicht unsere natürlichen Fähigkeiten.«
Ich starrte sie an, und mir wurde erst jetzt bewusst, dass sie makellos sauber war. Genau wie Smoky. »Wie macht ihr Drachen das bloß?«
Vishana
Weitere Kostenlose Bücher