Hexensturm
musst das Wesen eines Drachen verstehen. Er war nicht da, um dich zu beschützen. Du wurdest verletzt. Du hast es ihm nicht sofort gesagt. Und all das kam jetzt auf einmal heraus. Wenn du es ihm gleich gesagt hättest, hätte er Vanzir vielleicht immer noch töten wollen, aber er wäre nicht so wütend auf dich geworden. Er fühlt sich gedemütigt und beschämt, weil er seine Frau nicht schützen konnte. Verdammt, sogar ich fühle mich für dich verantwortlich, dabei bist du nicht einmal meine Gefährtin. Du bist die Schwester meiner Liebsten. Und wenn ich mich deshalb schon so mies fühle, was glaubst du, wie furchtbar das für deinen Ehemann ist?«
Shade und ich hatten die Auffahrt erreicht. »Smoky huldigt dem Boden, auf dem du gehst. Die Vorstellung, dass irgendjemand dir etwas angetan hat, macht ihn wahnsinnig. Er ist ein Drache … so ist das eben.«
Ich nickte. »Ja, ich glaube, das verstehe ich allmählich. Ich vergesse so leicht, dass ich es nicht nur mit einem Mann zu tun habe – einem gutaussehenden, starken, sturen Mann. Du hast recht, er ist ein Drache. Kein Mensch in einem Drachenkostüm. Nicht mal eine Fee im Drachenkostüm …«
»Genau. Also, möchtest du, dass ich dich bei deinem Spaziergang begleite? Ich gehe mit, wenn du das willst, aber es wäre vielleicht nicht gut – falls er dich sucht und einen Drachen an deiner Seite vorfindet … auch nur einen halben. Verdammt, ich traue mich nicht einmal, dich in den Arm zu nehmen, obwohl ich glaube, dass du das brauchen könntest. Mein Geruch an dir? Das wäre Selbstmord.« Shade lachte, und ich lächelte, zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit.
»Nein, ich komme klar. Die Banne sind aktiviert. Delilah wird mich schon finden, falls irgendetwas passiert. Ich könnte ein bisschen Zeit für mich allein brauchen … zum Nachdenken.«
»Dann gehe ich mal Vanzir suchen. Wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen soll, und vielleicht kann ich ihm dabei helfen. Hoffentlich schaffen wir es, alle wieder an einen Tisch zu bekommen.«
»Delilah hat sich einen tollen Kerl geangelt, so viel steht fest.« Ich winkte ihm nach, und er bog in einen Schatten ab und verschwand. Vernünftige Männer waren ein Geschenk der Götter – zumindest war Shade so vernünftig, wie ein Mann eben sein konnte. Auch Trillian sandte ich in Gedanken ein Küsschen dafür. Vielleicht würde Smoky auf ihn hören. Trillian konnte ihn hoffentlich etwas beruhigen.
Nachdem Shade verschwunden war, schlug ich den Weg zum Birkensee ein. Delilah hatte recht gehabt, ein Spaziergang würde mir guttun. Ich beschloss, mir jeden Tag ein wenig Zeit dafür zu nehmen, draußen in der Stille, bei jedem Wetter. Es schneite nicht mehr, und ein Stückchen Himmel schimmerte zwischen den Wolken. In einer Stunde würden sich die ersten Sterne zeigen.
Der vertraute Trampelpfad hieß mich willkommen, und meine Stiefel hinterließen weiche Abdrücke im Schnee. Ich holte tief Luft und ließ die Kälte meine Lunge füllen. Es war lange her, seit ich zuletzt ganz allein spazieren gegangen war. Selbst bei Vollmond zog ich ja mit der Wilden Jagd der Mondmutter über den Himmel, gemeinsam mit Kriegern und anderen Hexen, die der Herrin der Jagd folgten.
Nein, ich brauchte wirklich mehr Zeit für mich allein.
Vor mir lag eine Biegung, an der sich der Pfad gabelte. Ein Weg führte tiefer in den Wald hinein, der andere zum Birkensee, wo wir an den Feiertagen meist unsere Rituale abhielten. Wo ich Smoky und Morio geheiratet hatte.
Als ich näher kam, bemerkte ich eine große Gestalt unter den Bäumen, in einen weißen Umhang gehüllt. Sein langes Haar wehte leicht im Wind.
Smoky! Smoky hatte mich gesucht und gefunden. Ich eilte ihm entgegen. Trillian musste ihn zur Vernunft gebracht haben, den Göttern sei Dank. Jetzt würden wir die Sache ruhig angehen und uns irgendeinen Kompromiss überlegen, wie Vanzir am Leben und mein Ehemann friedlich bleiben konnten. Mein Herz machte einen kleinen Satz, und Sorge und Kummer wurden ein wenig leichter.
Als ich um die Tanne kam, die noch zwischen uns stand, streckte ich die Arme aus, voller Sehnsucht nach seiner Umarmung, seinem Kuss. Ich wollte ihn um Verzeihung dafür bitten, dass ich ihm nicht genug vertraut hatte, um ihm sofort zu erzählen, was passiert war.
»Smoky, bitte sei nicht böse auf mich …«
Die Worte blieben mir im Halse stecken, und ich starrte den Mann, der vor mir aufragte, stumm an. Er verzog langsam die Lippen zu einem anzüglichen
Weitere Kostenlose Bücher