Hexentochter
Regen aufgehört hatte.
Sie sammelte ihre Kinder ein und ging hinauf an Deck. Das Meer war noch immer aufgewühlt, doch ein blasser Sonnenstrahl drang durch die Wolken. Sie atmete tief durch und drängte ihre Kinder, es ihr gleichzutun.
Marianne hüpfte über das Deck. Gwen hielt sie nicht zurück. Das Kind brauchte Bewegung, ein wenig Freiheit.
Als Marianne jedoch an die Reling trat und auf das Wasser hinunterspähte, schlug Gwen das Herz auf einmal bis zum Hals.
»Komm da weg!«, rief sie.
Doch es war zu spät.
Eine riesige Welle fegte über die Seite des Schiffes hinweg und riss das Kind mit sich ins Wasser hinab.
Gwen stürzte kreischend zur Reling. Der Kapitän hatte alles beobachtet und hielt sie auf, indem er sich zwischen sie und die Reling drängte.
Zwei Matrosen rannten herbei und starrten ins dunkle Wasser hinab. Dann richteten sie sich langsam auf und schüttelten grimmig die Köpfe.
»Es tut mir leid, Madam. Sie ist fort«, sagte der Kapitän mit barscher Stimme. Doch seine Augen glänzten mitfühlend.
Sie schrie und versuchte, ihrer Tochter hinterherzuspringen. Vielleicht konnte sie sie noch retten. Zumindest konnte sie mit ihr gehen.
»Madam! Denken Sie an ihre anderen Kinder!«
Diese Worte brachten sie zur Besinnung. Sie wandte sich schluchzend ab und rannte zu ihren beiden kleinen Jungen zurück. Sie blickten ängstlich zu ihr auf. Gwen drückte sie fest an sich und weinte.
Als die Wälder des neuen Landes in Sicht kamen, hatte sie sich mit Mariannes Tod abgefunden. Ihr Herz war gebrochen, doch sie war eine Cahors, und gebrochene Herzen spielten kaum eine Rolle, wenn es darum ging, was getan werden musste.
Jetzt sind wir nur noch zu dritt, wir »Cathers«. Ich habe keine Tochter, die unsere Linie fortsetzen könnte, die Jungen haben zumindest etwas magische Begabung. Womöglich ist es besser so. Vielleicht will die Göttin mir damit bedeuten, dass das Haus Cahors nun wahrhaftig untergegangen ist... und dass die Magie mit mir sterben sollte.
Gwen aus dem Hause Cahors blickte auf ihre Söhne hinab und empfand nichts als Liebe für sie. Sie sollten heranwachsen und nichts als Liebe kennen. Und Frieden. Nein, sie würde sie nicht in Magie unterweisen. Sie würde ihnen nichts von der Göttin erzählen oder von ihren Todfeinden, den Deveraux.
Alles würde mit ihr enden. Mit ihrem Tod würde der ewige Kreislauf endlich abbrechen.
Ihre Tochter war das letzte Opfer. »Das Erbe unserer Familie soll nie wieder jemanden das Leben kosten«, schwor sie sich.
Sie zog ihre Söhne an sich und trat mit ihnen an die Reling.
»Schaut, Kinder. Wir betreten gleich eine neue Welt. Eine neue Stadt. Der Ort heißt Jamestown.«
Ein Schatten fiel auf ihre Freude.
Jamestown war nach König James benannt, dem Monarchen, der Hexen so sehr verabscheut hatte.
Das ist mir gleich, sagte sie sich. Mit alledem ist es jetzt vorbei.
Der Mutterzirkel: Paris, im November
»Man könnte beinahe von einem Wunder sprechen«, berichtete Anne-Louise der Hohepriesterin, mit der sie im Mondtempel zusammensaß. Der kreisrunde Raum war erleuchtet von strahlenden Gemälden und Hologrammen des Mondes, goldgelbem Kerzenschein und duftenden, begrünten Wasserbecken. Uralte Mosaiken der Artemis schmückten den Boden, und an den Wänden prangten Wandgemälde und heilige Schriften zu Ehren der Mondmutter, der Göttin in all ihren Erscheinungen.
Altardiener bewegten sich lautlos durch den Raum, kümmerten sich um die Flammen der vielen Kerzen und Feuerschalen und legten den Statuen der Göttin in ihren vielen Inkarnationen Rosen und Lilien zu Füßen: Hekate, Astarte, Maria von Nazareth, Kwan Yin und viele weitere.
Der Mondtempel war das Allerheiligste des Mutterzirkels.
Sie tranken Hexenwein. Anne-Louise hatte nach ihrer Rückkehr sogleich um ein Reinigungsritual gebeten. Sie war immer noch nicht sicher, ob sie wirklich ganz von Hollys Unheil reingewaschen war.
»Wunder ist ein seltsames Wort aus dem Mund einer Hexe«, bemerkte die Hohepriesterin. Sie war eine ältere Frau, immer noch sehr schön, mit langem rotem Haar, das ihr in Locken über die Schultern fiel. Sie trug das weiße Priesterinnengewand, und auf ihre Stirn war ein Mond täto- wiert. Anne-Louise trug ebenfalls fließende weiße Gewänder.
»Die Deveraux sind verschwunden«, fuhr Anne-Louise fort und gestikulierte so heftig mit der Hand, dass sie beinahe ihren Wein verschüttet hätte. »Die gesamte Streitmacht ist einfach so verschwunden.« Sie beugte sich vor.
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