Hexenzorn
dieser Gesinnungswandel einigermaßen überraschend. Zu sehen, wie Rondeau einen
Sinn für Moral entwickelte, war, als sehe man den ersten Einzeller aus der Ursuppe klettern.
»Hast du vielleicht ein paar Cent übrig?« Ein ungepflegter junger Mann hielt ihr lächelnd einen Papierbecher hin, in dem ein paar Münzen klapperten. Marla und Rondeau gingen vorbei, ohne ihn auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.
»Siehst du? Diese Stadt ist gar nicht so anders als unsere. Auch hier gibt’s Schnorrer.«
Marla schnaubte. Der Typ sah aus wie ein Student in den Semesterferien, der sich sein Biergeld zusammenbettelt. Bei uns sind die Menschen gesetzter, verstehst du? Sie sehen so aus, als wären sie auf dem Boden angekommen.« Sie sah sich noch einmal um, denn sie hatte wieder das Gefühl, dass ihnen jemand folgte, aber der Studenten-Penner war nicht mehr zu sehen, und auch sonst war niemand auf der Straße.
Rondeau zuckte die Achseln. »Geh nach Mission oder nach Tenderloin, da kannst du jede Menge solcher Leute sehen, würde ich wetten. Das hier ist der Yuppie-Teil der Stadt, ein Ausflugsziel für Touristen. Die Cops vertreiben wahrscheinlich jeden, der den Touris unangenehm auffallen könnte.«
Sie bogen von der Stockton in die Geary Street ab. Beim Anblick der Gebäude auf der Straße riss Marla die Augen auf. »Kein einziger Gucci oder Louis Vuitton, nur Theater und Kunstgalerien. Mann, wenn die wüssten, was sie hier an Geld verlieren!«
Rondeau zuckte die Achseln. »Viele Leute kommen wegen der Kultur hierher. Ich schätze, den Läden hier geht’s gut.«
Marla legte eine Hand auf Rondeaus Arm, damit er stehenblieb,
und deutete mit dem Finger. »Dieser Galerie hier geht’s wohl nicht so gut.«
Auf der anderen Straßenseite, fast am Ende des Häuserzugs, war eine hölzerne Absperrung. Die Scherben des eingeschlagenen Galeriefensters lagen auf dem Bürgersteig verstreut, ein Cop lehnte gelangweilt an der Absperrung, die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Hose gehakt.
Marla konnte Orten, an denen Verbrechen geschehen waren, einfach nicht widerstehen. Sie hörte Rondeau seufzen, während sie die Straße überquerte und auf die Szene der Zerstörung zuschlenderte. Ganz unten an einem der angrenzenden Gebäude erweckte etwas Gelbes ihre Aufmerksamkeit. Marla kniete sich hin und nahm es näher in Augenschein.
Es war ein weiterer kleiner, gelber Frosch. Er lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Marla holte einen Bleistift aus ihrer Tasche und stupste den Frosch mit dem Radiergummi an. Er blieb liegen, ohne sich zu rühren. Wie er so tot dalag, sah er nicht aus wie ein Tier, eher wie ein Spielzeug. Marla sah sich kurz um, dann warf sie den Bleistift in einen Gully. Sie wollte nicht gedankenverloren auf dem Stift herumkauen und sich vergiften. Sie machte ihre Tasche auf und fischte eine Plastiktüte mit ein paar Peyote-Buttons darin heraus. Auch die warf sie in den Gully. Sie konnte sich auch andere Halluzinogene besorgen, falls ein veränderter Bewusstseinszustand sich als nötig erweisen sollte. Sie dachte einen Moment lang darüber nach, wo die Dinge, die sie da wegwarf, wohl landen würden. Sowohl der vergiftete Bleistift als auch die Peyote-Buttons würden weggespült werden, wahrscheinlich in die Bucht, wo das Wasser ihre Wirkung ziemlich stark verdünnen sollte. Und falls ein paar
Fische verenden oder auf einen Trip gehen sollten, so war das Karma-technisch zu verkraften - nichts im Vergleich zu der Schuld, die sie sich bereits aufgeladen hatte, um ihre eigene Haut über so viele Jahre hinweg zu retten.
Marla schob den Frosch vorsichtig in die Plastiktüte und achtete peinlich genau darauf, dass er ihre Haut nicht berührte. Unterdessen schaute Rondeau in das Fenster der Galerie, neben der sie kniete. »Da drinnen sind Skulpturen aus alten Staubsaugern und Bügelbrettern und so Zeug«, sagte er. »Schürzen mit Spitzen dran haben sie auch noch an.«
Marla rollte die Tüte mit dem Frosch feinsäuberlich zusammen - die Amphibie war kleiner als die drei Peyote-Buttons - und steckte sie in eine der Seitentaschen, wo sie nicht unabsichtlich hineingreifen würde, während sie nach etwas anderem suchte. Dann stand sie auf und blickte ebenfalls in die Galerie. »Prätentiöser Mist«, sagte sie schließlich.
»Hmm«, meinte Rondeau. »Lass mich mal deinen Kunstgeschmack sondieren. Gibt es irgendeine Statue, die in deinen Augen kein prätentiöser Mist ist?«
»Der David von Michelangelo hat mir immer
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