Hexer-Edition 01: Die Spur des Hexers
obwohl er eine sehr konkrete Vorstellung davon hatte, womit sich der bedauernswerte Henry beschäftigt haben mochte.
»Lauter verrücktes Zeug«, lautete die Antwort. »Ein wenig Mystik, gemischt mit echter Historie und einem guten Schuss Unsinn, wenn Sie mich fragen. Wir sind da.« Er blieb stehen, deutete auf eine Tür und zog mit ungelenken Bewegungen einen Schlüssel aus der Rocktasche.
Andara trat einen halben Schritt zurück, während sein unfreiwilliger Führer die Tür aufsperrte und eine einladende Handbewegung machte.
Im ersten Moment sah er nichts, denn der Raum hinter der Tür war dunkel; vor den Fenstern lagen schwere, hölzerne Läden, die jedes bisschen Licht verschluckten, und zusätzlich waren die Vorhänge zugezogen. Aber er hörte, und was er hörte, reichte aus, ihn trotz der im Raum herrschenden Wärme frösteln zu lassen.
Zuerst ein halblautes, hastiges Schleifen und Flüchten, wie die Laute eines fliehenden Tieres, das sich in Panik in eine Ecke verkriecht; dann rasche, hektische Atemzüge und schließlich ein Wimmern und Stöhnen, wie es eine menschliche Stimme nur schwer vorstellbar hervorbringen konnte: dunkle, gutturale Töne, ein heiseres Bellen und widerwärtige Quietsch- und Pfeiflaute, die an das Kreischen einer sterbenden Ratte erinnerten.
»Warten Sie einen Moment, Sir«, sagte sein Führer. Er betrat – sehr vorsichtig, wie Andara bemerkte – das Zimmer, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Andara hörte, wie er das Fenster entriegelte und aufschob, dann flutete helles, nach der Dunkelheit schon beinahe unangenehmes Sonnenlicht in den Raum.
Was er sah, erfüllte ihn mit schierem Entsetzen.
Der Raum war provisorisch als Krankenzimmer hergerichtet worden, was hieß, dass alle beweglichen Möbel hinaus- und ein fahrbares Bett hineingeschafft worden war. Die eingebauten Bücherschränke waren leergeräumt worden, und vor dem Fenster prangte ein hastig angebrachtes Eisengitter. Als er den Raum betrat, fiel ihm auf, dass die Tür auf der inneren Seite keinen Knopf hatte. Unwillkürlich musste er an die Isolierzelle eines Irrenhauses denken.
Dieser Eindruck war jedoch hauptsächlich auf den Bewohner dieses schrecklichen Zimmers zurückzuführen, der sich in die äußerste Ecke geflüchtet und angstvoll die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen hatte. Er stieß noch immer diese entsetzlichen, kaum mehr menschlich zu nennenden Laute aus, und das, was Andara von seinem Gesicht erkennen konnte, war zu einer Grimasse der Furcht verzerrt.
Sein Führer wollte etwas sagen, aber Andara gebot ihm mit einer raschen Geste, zu schweigen und das Zimmer zu verlassen. »Schließen Sie die Tür«, sagte er. »Und warten Sie auf dem Korridor auf mich. Sie lassen niemanden herein, ganz gleich, wer kommt. Verstanden?«
Der Mann nickte, drehte sich mit steinernem Gesicht um und verließ das Zimmer. Das Schloss rastete mit einem hörbaren Schnappen hinter ihm ein.
Andara wartete, bis sich seine Schritte ein Stückweit entfernt hatten, dann wandte er sich wieder um und trat behutsam auf die in der Ecke kauernde Gestalt zu. Der junge Mann – er mochte zwanzig, im allerhöchsten Falle fünfundzwanzig Jahre alt sein – kauerte sich angstvoll noch weiter zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein helles, panikerfülltes Wimmern und Schluchzen mischte sich in die entsetzlichen Laute, die aus seiner Kehle drangen.
»Keine Angst«, sagte Andara sanft. »Ich bin nicht Ihr Feind. Ich will Ihnen helfen.« Einen halben Schritt vor Henry blieb er stehen, ließ sich in die Hocke herabsinken und streckte mit einem freundlichen Lächeln die Hand aus. Henry beobachtete ihn durch die Finger hindurch. Seine Augen waren groß und dunkel. Angst und Wahnsinn loderten darin.
»Nehmen Sie die Hände herunter«, sagte Andara ruhig. »Ich werde Ihnen helfen.« Er legte alle suggestive Macht, zu der er überhaupt fähig war, in diese Worte. Trotzdem dauerte es lange, bis Henry gehorchte; und als er es tat, waren seine Bewegungen ruckhaft und voller nur mühsam unterdrückter Furcht.
Was Andara sah, ließ ihn abermals schaudern. Henry war ein Mann von sehr schlankem, fast schon dürrem Wuchs mit halblangem Haar, schlechten Zähnen und einem eingefallenen Gesicht, dem der struppige Vollbart vergeblich einen markanten Zug zu verleihen versuchte. Er korrigierte seine Schätzung sein Alter betreffend ein wenig nach oben. Obwohl noch Student, musste er Anfang dreißig sein.
»Ich tue Ihnen nichts,
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