Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit
uns.
Es hatte einmal Wälder wie diese gegeben.
Vor hundert oder zweihundert Millionen Jahren.
Sie schrie. Schrecken und Furcht lähmten sie, aber selbst wenn sie fähig gewesen wäre, sich zu bewegen, hätte es nichts gegeben, wohin sie hätte fliehen können. Mit dem Ding war Licht in den Keller gedrungen; ein grauer, flackernder Schein, in dem alle Gegenstände unwirklich und alle Bewegungen ruckhaft und abgehackt wirkten. Ihr Blick hing gebannt auf dem schwarzgrünen, wabernden Ding, das die Tür wie ein Bild aus einem Alptraum ausfüllte, ein wogendes, widerwärtiges Etwas aus Schleim und Fleisch und reißenden Stacheln und Gestalt gewordener Furcht, das sie aus einem einzigen, lidlosen roten Auge musterte. Seiner Dämonenfratze war keine Regung anzusehen, aber Jenny spürte einfach, wie die Blicke des Ungeheuers mit einer schwer zu bestimmenden Gier über ihren Körper tasteten …
Das Ungeheuer glitt mit einer kraftvollen Bewegung auf sie zu und blieb zitternd stehen, als Jenny mit einem Schrei auf die Füße sprang und abwehrend die Hände ausstreckte. »Geh weg!«, schrie sie. »Geh weg!«
Sie wusste nicht, ob das Monstrum ihre Worte verstand oder ob es nur auf den Klang ihrer Stimme reagierte. Aber es kam nicht weiter auf sie zu. Sein Blick flackerte. Drei, vier seiner zahllosen, peitschenden Tentakel streckten sich aus, deuteten zitternd in ihre Richtung und verharrten, wenige Zentimeter, ehe sie ihren Körper berühren konnten.
»Nein!«, schrie Jenny. »Geh! Geh weg!«
Sie taumelte rückwärts vor der grauenhaften Erscheinung davon, prallte gegen die feuchtkalte Wand und schrie weiter.
Ihre Schreie schienen das Ungeheuer nervös zu machen. Die glitzernden Arme peitschten stärker, und in dem faustgroßen blutigroten Auge flammte Zorn auf. Aber es kam nicht näher.
»Du darfst dich nicht wehren, Jenny.«
Jenny fuhr mit einem neuerlichen, noch gellenderen Schrei herum, als sie die Gestalt neben sich aufwachsen sah. Es war Charles – aber sie erkannte ihn kaum noch. Der Verfall seines Körpers war weiter fortgeschritten.
Jennys Stimme überschlug sich, wurde zu einem unmenschlichen Kreischen. Für einen Moment drohte sie die Besinnung zu verlieren, aber irgendwo, tief in ihr, war noch ein Rest von Kraft und Lebenswillen, etwas, das sie zurückriss und sie, obgleich sie halb wahnsinnig vor Furcht und Entsetzen war, kämpfen ließ.
Charles kam näher, hob langsam die Arme, versuchte nach ihr zu greifen und erstarrte, als Jenny mit einem würgenden Laut zurücksprang. Sie taumelte, verlor auf dem feuchten Boden das Gleichgewicht und fiel.
»Nicht wehren«, murmelte Charles. »Es hat keinen Zweck, wenn du dich wehrst, Liebling. Er braucht deine Lebenskraft, aber du musst sie ihm freiwillig geben. Freiwillig und freudig.« Seine Stimme wurde hart und hatte plötzlich nichts mehr mit der zu tun, die sie kannte. »Sterben wirst du so oder so, aber es liegt in deiner Hand, ob du die Erfüllung finden oder zu einem Wesen wie ich werden wirst. Sieh mich an! Willst du, dass das dein Schicksal ist?«
Jenny kroch verzweifelt vor ihm davon. Charles folgte ihr mit unsicheren, taumelnden Schritten. Er streckte abermals die Arme nach ihr aus und eine einzelne, schwarz glänzende Spinne kroch über seine Hand, balancierte auf sechs Beinen auf seinen ausgestreckten Fingern und tastete mit den beiden anderen nach ihrem Gesicht.
Jennys Verstand drohte endgültig zu zerbrechen, als die haarigen Beine ihre Wange berührten. Es war ein sanftes, kaum spürbares Tasten, eine Berührung fast wie ein zärtliches Streicheln, und trotzdem hatte sie das Gefühl, von einer weißglühenden Flamme ergriffen und berührt zu werden.
Sie schrie. Ihre Finger glitten ziellos über den Boden, ertasteten etwas Hartes, Großes und schlossen sich darum. Sie handelte, ohne zu denken. Mit einer blitzschnellen, mit der Kraft der Verzweiflung geführten Bewegung riss sie den Stein hoch und schleuderte ihn mit aller Macht.
Charles versuchte dem Wurfgeschoß auszuweichen, aber seine Reaktion kam zu spät. Der Stein traf seine Stirn. Charles taumelte. Seine Arme fuhren ziellos durch die Luft. Weitere Spinnen fielen aus seiner Kleidung und für einen Moment konnte Jenny in seinem Gesicht Schmerz lesen, Schmerz und eine tiefe Verzweiflung.
Dann erlosch der Funke von freiem Willen wieder. Die geistige Fessel nahm wieder Besitz von seinem Bewusstsein, aber er versuchte nicht noch einmal, sich Jenny zu nähern.
»Warum wehrst du dich?«,
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