Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit
bereits die grauen Fühler der Dämmerung über das Land und das Meer, das fast dreißig Yard unter der wie mit einem überdimensionalen Lineal gezogenen Abbruchkante der Steilküste gegen den Fels hämmerte, wirkte wie eine graue Ebene aus geschmolzenem Blei. Es regnete und der Wind brachte einen Hauch winterlicher Kälte mit sich, aber der Mann, der hoch aufgerichtet und reglos am Rande des Abgrundes stand, schien weder das eine noch das andere zu bemerken. Er stand schon lange hier – eine Stunde, vielleicht auch zwei – reglos, starr ohne den winzigsten Muskel zu rühren, ja, fast ohne zu atmen. Seine Augen waren halb geschlossen und sein Gesicht wirkte seltsam schlaff, als hätten die Muskeln und Sehnen darin ihre Kraft verloren. Seine Hände waren halb geöffnet und nach vorne gestreckt, über den Abgrund und auf das Meer hinaus, als griffe er nach etwas Unsichtbarem dort draußen, und von Zeit zu Zeit kamen sonderbar anmutende, atonale Laute über seine Lippen, ohne dass sie sich dabei bewegten. Der Regen hatte seine Kleider durchweicht und sein Haar zu einer fest anliegenden schwarzen Kappe zusammengebacken, in der die gezackte weiße Strähne über der rechten Braue wie eine Narbe wirkte, und seine Füße waren fast bis an die Knöchel hinauf in dem Morast versunken, in den der Regen den fruchtbaren Boden verwandelt hatte. Aber er bemerkte nichts von alledem. Sein Zustand ähnelte einer Trance, aber er war es nicht, denn anders als bei einer solchen war sein Geist hellwach, und der Verstand hinter der hohen glatten Stirn arbeitete auf Hochtouren. Seine Gedanken griffen hinaus, tasteten auf Wegen, die dem normalen menschlichen Begreifen auf ewig verschlossen bleiben werden, nach denen des gigantischen Geschöpfes, das ein paar Meilen nördlich der Küste auf dem Meeresgrund lag und wartete. Das Gespräch war lautlos, und doch war es für ihn, als krümme sich die Natur selbst unter den Hieben unsichtbarer Titanenfäuste, jedesmal, wenn die gedankliche Stimme in seinem Schädel ertönte.
Es waren keine Worte, die er hörte, keine Begriffe einer menschlichen oder irgendwie anders gearteten Sprache; selbst die Laute, die er von Zeit zu Zeit ausstieß, hatten nichts mit wirklichem Sprechen zu tun. Was er empfing, war eine Mischung aus Bildern und Visionen, aus Gefühlen und harten, mit ungeheurer hypnotischer Kraft geschickten Befehlen und noch etwas, einer Art der Kommunikation, die so fremd war wie das Wesen, das sie benutzte, und die vor zwei Milliarden Jahren mit der Rasse, die ihm angehörte, untergegangen war. Seine Vorstellung, seine eigene, menschliche Phantasie, half ihm dieses bizarre fremde Etwas in Worte und Begriffe umzuwandeln, aber es waren nur Bruchstücke der wirklichen Botschaft, ein blasser Schatten der wahren geistigen Macht des schlangenhäutigen Titanen. Wäre er wirklich damit konfrontiert worden, wäre sein Geist zerbrochen wie dünnes Glas unter dem Fausthieb eines Riesen. Er hatte viel gelernt über dieses Wesen dort draußen und das Volk, dem es entstammte, und vieles von dem, was er erfahren hatte, hatte ihn überrascht. Seine Stimme (die keine Stimme, sondern das war, was sein Geist aus der bizarren Botschaft heraushörte und hineindeutete) war – obgleich lautlos – von einer Vielzahl einander überlappender Emotionen erfüllt: Hass, Zorn, Ungeduld, Gier, Verachtung – vor allem Verachtung. Ja, er hatte viel über die GROSSEN ALTEN gelernt, in den drei Tagen, in denen er mit Yog-Sothoth, einem der sieben Mächtigen, gesprochen hatte. Vielleicht war es das erste Mal überhaupt, dass einer der GROSSEN ALTEN mit einem Menschen direkt sprach; und es war mit Sicherheit das erste Mal, dass einer der Ihren die Hilfe eines Menschen benötigte. Er hatte ein paarmal darüber nachgedacht, wie es für dieses Wesen sein musste, auf die Mitarbeit einer Kreatur angewiesen zu sein, für die es bisher außer Verachtung und einer gelinden Art von halb wissenschaftlicher Neugier allenfalls noch Hass empfunden hatte. Er war zu keinem Ergebnis gelangt. Er wusste nur, dass Yog-Sothoth vor Ungeduld fieberte. Nach Millionen und Abermillionen Jahren, die er geduldig gewartet hatte, mussten die letzten Tage zu einer Ewigkeit geworden sein. Und trotzdem waren die unhörbaren Botschaften, die seinen Geist überschwemmten, von einer ungeheuren Ruhe und Gelassenheit erfüllt. Selbst die geistige Klammer, die seine Gedanken fesselte und ihn zu einer Puppe machten, die zwar noch über einen eigenen Willen,
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