Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire
um und hob die Hand an die Wange, wo sie die Berührung gespürt hatte. Es war nicht viel mehr als ein flüchtiger Hauch gewesen, kaum spürbar. Vielleicht ein Insekt, das im Dunkeln die Orientierung verloren hatte und gegen sie geprallt war.
Das junge Mädchen runzelte die Stirn, packte seine Tasche fester und ging weiter.
Sekunden später spürte sie eine weitere Berührung, ein wenig fester als beim ersten Mal, und diesmal glaubte sie etwas zu sehen: einen kleinen, verschwommenen Schatten, der trunken vor ihrem Gesicht auf und ab torkelte und blitzschnell verschwand, als sie die Hand hob und danach schlug.
Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Für einen ganz kurzen Moment spürte sie nagende Furcht, aber sie vertrieb das Gefühl, schalt sich in Gedanken selbst eine dumme Ziege und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Es gab eine Menge Dinge, die man Gloria nachsagen konnte – aber Feigheit gehörte nicht dazu.
Irgendwo zwischen ihr und dem sorgsam gestutzten Rhododendronbusch rechts neben dem Weg bewegte sich etwas; ein Spiel unruhiger kleiner Schatten, die mit hektischen Bewegungen auf und ab hüpften.
Was war das?, dachte sie. Mücken? Aber nein; Mücken schwärmten nach Dunkelwerden nicht mehr. Außerdem hätte sie sie hören müssen.
Ohne auf die warnende Stimme in ihrem Inneren zu achten, setzte sie die Reisetasche ab und näherte sich vorsichtig dem Busch. Die Schatten wurden deutlicher, schälten sich jetzt als kleine graue Umrisse aus der Dunkelheit und torkelten wie wild hin und her. Einer von ihnen huschte auf sie zu und wich hastig zur Seite, als sie die Hand hob und damit wedelte.
Dann erkannte Gloria, was sie vor sich hatte.
Motten. Nichts als einen Schwarm kleiner, unansehnlicher grauer Motten.
Sie lächelte, schüttelte den Kopf über ihre eigene Neugier und Dummheit und ging zurück zu der Stelle, an der sie die Tasche abgestellt hatte.
Als sie sich danach bückte, berührte etwas ihre Hand. Und diesmal tat die Berührung weh.
Gloria fuhr mit einem unterdrückten Schrei hoch, sah ein graues Etwas von ihrer Hand fortflattern und schlug blindlings danach. Sie traf. Das kleine Flügeltier wurde aus der Bahn geworfen, torkelte zu Boden.
Sie zertrat es.
Der Kies unter ihrem Schuh knirschte, als zermalme sie Knochen, als sie den Fuß über dem winzigen Insekt drehte.
Ihre Hand tat immer noch weh. Gloria hob die Finger vor die Augen und versuchte im schwachen Mondlicht die Stelle zu erkennen, an der sie die Motte gebissen hatte – denn etwas anderes konnte es nicht sein – aber alles, was sie sah, war ein kleiner, grauer Fleck auf der Haut, wie Staub.
Angeekelt wischte sie sich die Hand an ihrem Rock sauber, nahm ihre Tasche auf und ging weiter.
Eine Motte flog auf sie zu, wich Millimeter vor ihrem Gesicht zur Seite und berührte sie ganz sanft mit den Flügelspitzen an der Stirn.
Gloria schrie erschrocken auf, schlug nach dem Tier und glitt auf dem Kies aus. Ihre Arme ruderten hilflos, sie verlor vollends das Gleichgewicht und stürzte. Ihre Tasche platzte auf, ihr Inhalt quoll hervor und fiel auf den Weg.
Und plötzlich waren überall Motten. Tausende der kleinen, grauen Tiere schienen mit einem Male die Luft um sie herum zu erfüllen, ein flatternder, torkelnder, lautloser Schwarm, der immer wieder auf sie herabstieß und ihr Gesicht und ihre Hände, die nackte Haut ihrer Beine und ihren Nacken berührte.
Gloria schrie vor Angst. In blinder Panik schlug sie um sich, zermalmte Dutzende der winzigen Tierchen mit den Händen und krümmte sich vor Furcht, als eine ganze Wolke der hässlichen grauen Schmetterlinge auf ihr Gesicht herabstieß.
Im ersten Moment war ihre Berührung sanft, beinahe zärtlich, wie ein Streicheln. Dann begann sie weh zu tun.
Schrecklich weh.
Über ihr im Haus flammten Lichter auf. Erregte Stimmen erklangen, dann wurde eine Tür aufgerissen, und hastige Schritte näherten sich.
Aber von alldem nahm Gloria kaum etwas wahr! Plötzlich, so rasch, wie die Schmerzen gekommen waren, verschwanden sie wieder. Sie war nur noch müde.
So unglaublich müde.
Die Bibliothek war nicht mehr leer. Jemand hatte das große Licht gelöscht und dafür die kleine Petroleumlampe auf dem Schreibtisch entzündet und das Feuer im Kamin war zu höherer Glut entfacht worden. In dem hochlehnigen Ohrensessel davor saß eine breitschultrige, in einen seidenen Hausmantel gehüllte Gestalt.
»Rowlf!«, sagte ich verblüfft. »Was …« Ich brach
Weitere Kostenlose Bücher