Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire
Bürgersteig ab.
»Und das ist … auch wirklich die richtige Adresse?«, vergewisserte sich Gloria. Ihr Blick irrte unsicher über das gewaltige Haus hinter dem schmiedeeisernen Zaun.
»Ashton Place 9«, bestätigte der Kutscher. »Ich sagte Ihnen ja – eine der feinsten Adressen der Stadt.« Er lächelte, deutete auf die Tasche und fragte: »Soll ich sie Ihnen noch ins Haus tragen, Ma’am?«
Gloria verneinte hastig. »Danke. Sie … ist nicht sehr schwer.«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Wie Sie wollen. Wenn Sie sonst noch irgendetwas benötigen …« Er lächelte verlegen, als er Glorias Blick bemerkte. »Heute ist sowieso kein guter Tag«, sagte er. »Kein Geschäft. Wenn Sie wollen, warte ich hier.«
Einen Moment lang dachte Gloria ernsthaft über das Angebot nach. Sie hatte sich auf dem Weg vom Bahnhof bis hierher mit dem Mann unterhalten und ihm erzählt, dass sie aufgrund einer Zeitungsannonce herkam, um sich auf die ausgeschriebene Stelle einer Hausdame zu bewerben. Und sie hatte gleich gespürt, dass der Mann mehr als rein geschäftsmäßiges Interesse an ihr hatte. Nun, warum nicht? Sie war sechsundzwanzig und nicht gerade hässlich, und er … Wenn sie sich den viel zu großen Mantel und den unmöglichen Zylinder wegdachte, sah er bestimmt gut aus.
Aber dann verscheuchte sie den Gedanken. Nein – es ging nicht. Sie war hierher nach London gekommen, um sich in der besseren Gesellschaft nach oben zu dienen. Hausdame, vielleicht sogar Gesellschafterin irgendeiner reichen alten Glucke, das war es, was sie werden wollte.
Vorerst. Später würde man sehen … Es gab genug allein stehende junge Männer in der Londoner Gesellschaft. Nein. Ein Mietkutscher passte nicht zu ihr. Auch wenn er noch so gut aussah.
Sie schüttelte den Kopf, griff nach ihrer Tasche und wandte sich mit einem kecken Hüftschwung um. Aber der Kutscher hielt sie noch einmal zurück. Gloria fuhr unmerklich zusammen, als sie spürte, wie hart sein Griff war.
»Vielleicht sollte ich doch besser warten«, sagte er, deutlich verlegen und ohne sie anzusehen. »Es geht mich ja nichts an, aber ich würde da nicht hineingehen.«
Gloria streifte seine Hand ab. »Warum nicht?«, fragte sie. »Sie haben doch selbst gesagt, es wäre eine der vornehmsten Adressen der Stadt, oder?«
»Man erzählt sich komische Dinge über dieses Haus«, fuhr der Mann fort, als hätte er ihre Worte gar nicht gehört. »Es hat eine ganze Weile leer gestanden und die Leute, die jetzt dort wohnen, kennt hier niemand. Und vor ein paar Tagen soll es eine wilde Schießerei gegeben haben.«
Und?, dachte Gloria. Was machte das? Wer sich ein solches Haus leisten konnte, musste reich sein. Nicht vermögend, sondern reich. Sie wiederholte das Wort ein paarmal in Gedanken und genoss seinen prickelnden Klang.
»Ich werde hier warten«, fuhr der Kutscher fort, als er ihr Schweigen registrierte und falsch auslegte. »Wenn Sie in einer Stunde nicht wieder da sind, verschwinde ich und Sie können mich vergessen.«
»Aber kommen Sie nicht auf die Idee, dass ich Ihnen den Verdienstausfall bezahlen soll«, sagte Gloria spöttisch. »Meinetwegen warten Sie, … äh …«
»Ronald«, sagte der Kutscher. »Ron, für meine Freunde.«
Gloria nickte. »Gut, Ron. Eine Stunde.«
Der Kutscher lächelte, zog sich mit einem kraftvollen Ruck auf den Kutschbock hinauf und ließ die Zügel knallen. Gloria sah ihm nach, bis der Wagen ein kurzes Stück die Straße hinuntergefahren und wieder zum Halten gekommen war, weit genug, dass er vom Haus aus nicht direkt gesehen werden konnte, aber so, dass er seinerseits das Tor und einen Teil des dahinterliegenden Gartens gut im Blick hatte.
Warum nicht?, überlegte sie. Wenn sie die Stelle nicht annahm, war Ron vielleicht nicht der Schlechteste, um sich mit ihm die Zeit zu vertreiben. Bis sie etwas Besseres gefunden hatte.
Sie nahm ihre Tasche auf, öffnete das Tor und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch. Das Haus und der Garten – eigentlich war es schon eher ein kleinerer Park – waren dunkel, nur hinter einem Fenster hoch oben im zweiten Stock brannte ein einsames Licht.
Gloria ging langsamer, als nötig gewesen wäre, aber sie sah sich dabei aufmerksam um. Das Haus wirkte sehr alt, wie Ron gesagt hatte, aber es war – genau wie der Garten – sehr gepflegt. Und es sah nach Geld aus. Nach sehr viel Geld. Es gefiel ihr.
Irgendetwas berührte ihr Gesicht.
Gloria blieb abrupt stehen, sah sich erschrocken nach beiden Seiten
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