Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
Aber ich sah noch mehr. Die Farben waren mir genommen worden, aber dafür erblickte ich einen Teil der Welt, der dem menschlichen Auge sonst verschlossen ist.
Ich sah die pulsierenden, dünnen Kraftlinien, die die einzelnen Tiere miteinander verbanden wie zuckende Bänder aus grauem Nebel, den dickeren, bebenden Strom, der aus der Stirn des Rattenmannes wuchs – und den Knotenpunkt, der wie ein nebeliges Krebsgeschwür über der grausigen Szene schwebte.
Es war, als tastete ich mich an einer unsichtbaren Halteleine entlang. Mein Geist überwand Zeit und Entfernung und für Bruchteile von Sekunden sah ich ein Bild – ein finsteres, feuchtes Verlies tief unter den Straßen Londons, erfüllt von Tausenden und Abertausenden von Ratten, von stinkendem Unrat und Aas. Und in der Mitte dieser widerlichen Armee des Schreckens hockte sie!
Die Albinoratte. Das gewaltige, weiße Tier, das ich schon einmal erblickt hatte, durch die Augen Lady Audleys. Und hinter ihr …
Die Verbindung zerriss mit einem schmerzhaften, peitschenden Schlag. Es war wie das Zurückschnappen eines straff gespannten Lederriemens. Über mir erlosch das nebelhafte Kraftzentrum im gleichen Moment, in dem die Albinoratte mein Tasten und Suchen bemerkte und die geistige Verbindung unterbrach. Der Rattenmann brüllte wie unter Schmerzen, kippte mit haltlos rudernden Armen nach hinten und verschwand in der quirlenden Masse der Ratten.
Im gleichen Augenblick brach die Hölle los. Aus der gewaltigen, disziplinierten Rattenarmee wurden wieder zahllose einzelne Tiere, hirnlose Kreaturen ohne wirkliches Bewusstsein. Die Straße schien zu explodieren. Die Ratten flohen in Panik, griffen sich gegenseitig an und bissen nach allem, was sich bewegte. Eine braune Flutwelle schien über mich hinwegzuspülen, schleuderte mich in den Staub der Straße und riss auch Howard und Rowlf und Cohen nieder. Verzweifelt wälzte ich mich herum, schlug die Arme über den Kopf und hielt den Atem an. Messerscharfe Krallen zerrissen meinen Rücken. Ein Dutzend Bisse ließ mich aufschreien und eine Ratte versuchte in ihrer Angst gar, unter meinen Mantel zu kriechen.
Dann war es vorbei. Der Schmerz und die ekelhafte Berührung der weichen warmen Rattenleiber vergingen und auch das Trappeln zahlloser horniger Krallen wurde in Sekunden leiser und verklang dann ganz.
Vorsichtig nahm ich die Hände vom Kopf, wagte es, die Augen zu öffnen, und sah mich um.
Die Ratten waren verschwunden. Ein paar vereinzelte Tiere irrten noch herum, kämpften blindwütig miteinander oder rannten einfach in Panik umher, aber das bizarre Heer hatte sich in Sekunden in Nichts aufgelöst, als der lenkende Wille erloschen war und die Tiere wieder ihrem Instinkt gehorchten, der ihnen befahl, sich bei Tageslicht nicht auf die Straße zu wagen.
Eine Hand berührte mich an der Schulter und als ich aufsah, blickte ich in Rowlfs zerschundenes Gesicht. »Alles in Ordnung, Kleener?«, fragte er.
Ich nickte, stemmte mich vollends in die Höhe und sah mich gründlicher um. Cohens Männer schienen ebenfalls mit dem Leben davongekommen zu sein. Der einzige Tote, den ich sah, war der Rattenmann.
Aus einem unbegreiflichen Grund hatten die Ratten ihn umgebracht. So gründlich, wie es vermutlich nur Ratten konnten. Wären nicht die Fetzen der schwarzen Arbeitsjacke gewesen, hätte ich ihn nicht einmal mehr erkannt …
Einen Moment lang ertrug ich den Grauen erregenden Anblick noch, dann wandte ich mich um und ging zu Howard und Cohen zurück. Howard sah übel aus, aber er schien genau wie ich größtenteils mit einigen Kratzern und dem Schrecken davongekommen zu sein. Cohen indes hockte stocksteif aufgerichtet und mit erstarrtem, schreckverzerrtem Gesicht auf dem Boden, sabberte vor sich hin und stieß kleine glucksende Laute aus. Rasch sondierte ich seinen Geist und schüttelte beruhigend den Kopf, als Howard mich fragend ansah.
»Er ist in Ordnung«, sagte ich. »Er wird den Schock überwinden. Du musst ihm alles erklären, wenn er wieder zu sich kommt.«
Es dauerte einen Moment, bis Howard begriff. »Ich soll es ihm erklären?«, wiederholte er. »Was soll das heißen, Robert?«
Ich antwortete nicht gleich. Howards Blick war fast lauernd und einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihm von dem Ding erzählen sollte, das ich durch den Geist der Albinoratte erblickt hatte, entschied mich aber dann dagegen. Howard würde nur versuchen mich aufzuhalten und ich hatte keine Sekunde mehr zu verlieren. »Ich muss
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