Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
sie mit einigem Geschick als Leiter benutzen konnte. Howard vermochte allerdings nicht zu erkennen, wo sie endeten, denn das fremdartige Licht war hier sehr viel intensiver, sodass sich der Schacht schon nach wenigen Yards in wirbelnden grünen Schleiern aufzulösen schien.
Cohen nickte ihm noch einmal aufmunternd zu, ging – ohne sich dabei aus der Hocke zu erheben, was seine Art der Fortbewegung einigermaßen komisch aussehen ließ – um den Schacht herum und begann unverzüglich die Ringleiter hinabzusteigen. Howard musste ihm folgen, ob er wollte oder nicht. Aber das unangenehme Gefühl, das er dabei hatte, wurde immer stärker; mit jeder Stufe.
Seit ich das Erbe meines Vaters angetreten habe, bin ich Wesen begegnet, die sich ein Mensch, der das Glück hat, ein normales Leben zu leben, nicht einmal vorzustellen vermag; Ungeheuern, die zu beschreiben die menschliche Sprache keine Worte hat; Wesen, deren bloßer Anblick dazu angetan wäre, einen unvorbereiteten Geist zu zerbrechen. Dinge, denen das Leben nichts gilt und die nur existieren, um zu töten. Leben, das nicht einmal Leben im irdischen Sinne ist.
Seit ich das kleine Haus am westlichen Rand von St. Aimes betreten hatte, ging mir der Anblick nicht mehr aus dem Kopf; das Bild, das ich für Bruchteile von Sekunden durch die Augen der Ratte gesehen hatte.
Alles hätte ich ertragen.
Einen Dämon.
Menschen fressende Ungeheuer.
Mordgierige Bestien.
Monster.
Selbst den Teufel – an den ich längst nicht mehr glaubte – in Person.
Dies alles und vielleicht noch viel mehr hätte ich ertragen.
Aber nicht das: Das Bild einer strahlend weißen, göttlich schönen Gestalt, an die zwei Meter groß, von schlankem, fast zerbrechlichen Wuchs. Die Haut so zart, dass sie durchscheinend wirkte, Züge, die nur noch mit dem Wort elfenhaft zu beschreiben waren. Haar wie gesponnenes weißes Licht und dazu ein Paar gewaltiger, blendend weißer Adlerschwingen, die zwischen ihren Schulterblättern hervorwuchsen.
Das Bild eines Engels …
»Die Sonne geht auf.« Lady Audleys Worte, so leise sie gesprochen waren, rissen mich mit fast schmerzhafter Wucht aus dem schwer zu beschreibenden Zustand zwischen Betäubung und Schock, in dem ich die vergangenen Stunden verbracht hatte. Trotzdem dauerte es noch Sekunden, ehe ich so weit in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte, dass ich wenigstens mit einem Nicken auf ihre Worte reagieren und aufstehen konnte.
Ich fühlte mich zerschlagen und müde, so, wie man sich eben fühlt, wenn man die zweite Nacht ohne ausreichenden Schlaf hinter sich hat; und zudem so niedergeschlagen wie selten zuvor in meinem Leben. Müde trat ich neben Lady Audley an das schmale Fenster, zog die zerschlissene Gardine zurück und blinzelte aus brennenden Augen hinaus.
Der Horizont begann sich aufzuhellen. Graue Fasern hatten sich in das samtene Schwarz der Nacht gewoben und weit draußen über dem Meer zeigte sich ein erster dünner Streifen roter Helligkeit. Von dem unaufhörlichen Regen, der ganz England während der letzten Wochen heimgesucht hatte, war nichts geblieben. Fast kam es mir wie eine grausame Ironie des Schicksals vor, dass ausgerechnet dieser Morgen seit langer Zeit wieder schön zu werden versprach.
Es konnte nämlich gut sein, dass es der letzte Morgen war, den dieses Land erlebte.
Vielleicht sogar der letzte der Welt.
Und ich war schuld daran.
Meine Gedanken mussten deutlich auf meinem Gesicht zu lesen gewesen sein, denn Lady Audley drehte sich plötzlich zu mir herum, berührte mich mit einer Hand an der Wange und lächelte. Ganz im Gegensatz zu sonst war mir ihre mütterliche Art nicht peinlich, nicht einmal lästig. Im Gegenteil. Ich war fast dankbar dafür.
»Lassen Sie den Kopf nicht hängen, mein Junge«, sagte sie sanft. »Das nutzt keinem. Ihnen am allerwenigsten.«
Ich schob ihre Hand sanft beiseite und legte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Die Kälte des Glases tat wohl. Meine Haut fühlte sich fiebrig an und schien überall gerissen zu sein. Ich war vollkommen übermüdet und der kleine verbliebene Rest logischen Denkens hinter meiner Stirn sagte mir, dass es in diesem Zustand nicht sehr viel brachte, über die Zukunft nachsinnen zu wollen.
»Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Lady Audley«, sagte ich. »Aber es ist nicht gerade leicht zu verdauen, dass man -«
»Einen Fehler gemacht hat?«, unterbrach sie mich. Sie schüttelte – plötzlich wieder ganz energiegeladene Matrone – den Kopf und drohte
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