Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
Sturz noch beschleunigte.
Dann tauchte ein heller Fleck in der wirbelnden Schwärze auf, zerfloss, formte sich neu, zerfloss wieder und wurde zu einem schmalen, in mildem weichem Licht schimmernden Gesicht. Shadows Gesicht.
Illusion, Robert, flüsterte ihre Stimme. Es ist nicht real. Lauf weiter.
Ihre Worte zerbrachen den Bann.
Von einer Sekunde auf die andere war das Gefühl des Sturzes fort, der Abgrund, die Leere und die schreckliche lichtlose Unendlichkeit verschwunden; ich fand mich auf den Knien liegend wieder, keine drei Schritte von der Stelle entfernt, an der Shadow wartete. Ein intensives Schwindelgefühl ließ mich stöhnen.
»Lauf weiter, Robert! Lauf doch!«
Shadows Worte drangen nur wie durch einen dichten dämpfenden Schleier an mein Bewusstsein. Trotzdem waren sie von fast hypnotischem Zwang. Ich sprang auf, taumelte einen Schritt, fiel wieder auf die Knie und stemmte mich abermals hoch. Der Obelisk schien Meilen entfernt zu sein, obgleich ich wusste, dass es in Wahrheit nicht mehr als ein Dutzend Schritte waren. Aber ich konnte plötzlich nicht mehr richtig laufen. Irgendetwas schien meine Beine festzuhalten, unsichtbare Hände, die sich in mein Fleisch krallten und feurige Bahnen aus Schmerz durch meine Muskeln jagten.
Ich sah an mir herab und schrie vor Entsetzen auf. Der steinerne Boden war an zahllosen Stellen geborsten. Dünne, mit einwärts gebogenen Dornen bewachsene Ranken waren aus dem Fels gebrochen und hatten sich um meine Beine und den Stockdegen geschlungen, und noch während ich versuchte, mit dem unglaublichen Anblick fertig zu werden, krochen mehr und mehr der dünnen, zitternden Strünke heran, tasteten nach meinen Beinen und wickelten sich wie stählerne Fesseln darum.
Mit verzweifelter Kraft riss ich meinen rechten Fuß los und tat einen Schritt. Die Ranken zerrissen, aber auf meiner Haut blieben blutige Striemen zurück und aus dem Fels peitschten sofort neue Stränge herbei, um den Platz der Zerrissenen einzunehmen. Der nächste Schritt kostete mich unendliche Überwindung.
Illusion, hämmerte Shadows Stimme in meinen Gedanken. Es ist alles nur Illusion!
Die zerrenden Ranken verschwanden und als ich erneut an mir herabsah, waren die blutenden Wunden auf meinen Beinen verschwunden. Trotzdem glaubte ich den furchtbaren Schmerz noch wie ein brennendes Echo zu spüren.
Ich taumelte weiter. Flammen erschienen wie tödliche glühende Hände in der Luft und versengten meine Haut; ich ignorierte sie, torkelte weiter und fiel, als der Boden wie ein gewaltiges steinernes Maul aufklaffte und ich vor Schrecken strauchelte. Dann regneten Steine auf mich herab, weiß glühende Felsbrocken, die beim Aufprall zerplatzten und Spritzer kochender Lava über mich ausschütteten.
Es ist nicht wirklich, Robert! Nicht wirklich!
Ich wusste nicht, ob es tatsächlich Shadows Stimme war oder irgendetwas in mir selbst, an das ich mich klammerte, um nicht vollends den Verstand zu verlieren; aber es waren diese beiden Worte, die mir die Kraft gaben, weiterzutaumeln. Es war nicht wirklich. Nicht wirklich! Nicht wirklich!
Immer und immer wieder hämmerten meine Gedanken diese beiden Worte. Ich dachte nicht mehr. Ich spürte kaum mehr, wie und wohin ich mich bewegte. Die Flammen, die Albtraumkreaturen, die aus dem Nichts auftauchten, die klaffenden Abgründe, der kochende Fels, alles wurde unwichtig, irreal, der Obelisk zu einem schwarzen Schatten, der irgendwo in der Unendlichkeit vor mir auf und ab tanzte. Ich dachte nur noch diese beiden Worte, das Einzige, was Sinn ergab, die einzige Wahrheit, die ich noch akzeptierte. Es war nicht wirklich. Alles, was ich zu erleben glaubte, war nur Illusion. Nicht wirklich.
Irgendwann, nach einer Million Jahre, die ich durch die Hölle gewankt war, prallte ich gegen etwas Hartes und aus den blutigen Nebeln vor meinen Augen schälte sich die spiegelglatte Flanke des Obelisken. Keuchend ließ ich mich gegen den kalten Fels sinken, rang ein paar Sekunden lang nach Atem und drehte mich um, um zu Shadow zurückzublicken.
Sie schien Meilen entfernt. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie gestikulierte wild mit den Armen und deutete immer wieder nach oben, zur Spitze des schwarzen Obelisken hinauf, dann zurück auf den Gang, durch den wir gekommen waren. Ich verstand. Shub-Nigguraths Kinder würden nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Mühsam drehte ich mich wieder herum, streckte die Hände aus und suchte auf der spiegelglatten Flanke des
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